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Politik: „Wir muten den Menschen zum Teil wirklich etwas zu“

Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Lage in Nahost, die Lage im Land – und das Mosaik der großen Koalition

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben im Mai vor dem American Jewish Committee gesagt, dass Deutschland, was immer auch geschieht, für das Existenzrecht Israels eintreten wird. Werden deutsche Soldaten in den Südlibanon gehen?

Diese Frage stellt sich zurzeit wirklich nicht. Ansonsten war und bleibt es richtig, was ich dem Jewish Committee zum Existenzrecht Israels gesagt habe. Aber leider ist das Existenzrecht Israels nicht so allgemein anerkannt, dass dies eine triviale Aussage wäre. Man muss immer wieder entschieden dafür eintreten. Die Situation ist emotional aufwühlend, die jetzt in der Region eingetreten ist. Die Bilder der Gewalt, das menschliche Elend auf beiden Seiten – das ist bedrückend. Wir müssen uns jetzt dafür einsetzen, dass die Waffen so bald wie möglich schweigen können, und zwar für mehr als nur einige Stunden. Wir arbeiten an einer tragfähigen Grundlage dafür. Deshalb ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass sich die erweiterte Libanon-Konferenz in Rom auf das Ziel einer dauerhaften und nachhaltigen Waffenruhe geeinigt hat. Rom leitet den dazu notwendigen Prozess ein, der jetzt schnellstmöglich auf der Ebene der Vereinten Nationen konkretisiert wird. Dazu gehört auch die Erarbeitung der Grundlagen für eine internationale Präsenz. Rom war auch deshalb so wichtig, weil man sich über den bisher befassten Kreis der G8-Staaten und der EU hinaus unter Einbeziehung wichtiger Länder der Region und der UN zu diesen Schritten bekannt hat. Für sehr wichtig halte ich auch die von Israel gemachten Zusagen, humanitäre Maßnahmen zuzulassen.

Ihr Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat bereits gesagt, dass Deutschland sich nicht verweigern werde, wenn es gefragt wird.

Wir sind uns darin einig, dass sich diese Frage zurzeit nicht stellt. Mir kommt es darauf an, dass wir in der richtigen Reihenfolge handeln. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie wir zu einer tragfähigen Waffenruhe kommen und die UN-Resolution 1559 erfüllen können …

… die eine wirksame Entwaffnung der Terrorgruppen im Südlibanon vorsieht …

Das ist der Schlüssel zur Lösung.

Stimmt der Satz, dass Israel uns näher ist als Kongo?

Die Menschenwürde ist unteilbar, kein Leben kann gegen ein anderes aufgerechnet werden. Zu Israel besteht darüber hinaus eine besondere Verantwortung durch die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte. Jede deutsche Regierung hat alles daran gesetzt, das Existenzrecht Israels zu sichern. Was dazu am besten beiträgt, wird diskutiert und entschieden.

Wie weit trägt die europäische Einigkeit im Nahost-Konflikt?

Weit. Europa und die USA bemühen sich gemeinsam um eine tragfähige Lösung.

Hat Deutschland nicht auch eine vermittelnde Rolle im Nahen Osten?

Ein Streit um Begriffe hat wenig Sinn, denn jeder weiß doch, dass Israels Existenzrecht nur gesichert werden kann, wenn es in guten Beziehungen mit seinen Nachbarn leben kann. Es war ein langer Prozess, bis Länder wie Ägypten oder Jordanien das Existenzrecht Israels anerkannt haben. Dass Israel von Nachbarn umgeben ist, die sein Existenzrecht nicht jeden Tag in Frage stellen, die nicht fundamentalistisch agieren, möglich zu machen, das ist doch auch unsere Aufgabe. Wenn gleichzeitig die Palästinenser in einem eigenen Staat ein gutes Leben führen können, wird das auch Israel helfen.

Frau Merkel, innenpolitisch wird die große Koalition im Moment enorm kritisiert. Finden sie Ihre Arbeit hinreichend gewürdigt?

Ich habe meine Vorstellung von dem, was wir geleistet haben und werde dafür eintreten. Es ist natürlich immer am schönsten, wenn davon auch viele Menschen überzeugt werden können. Ich setze mich immer mit begründeter Kritik auseinander, aber insgesamt werbe ich für das, was wir aus meiner Sicht an richtigen Dingen erreicht haben.

Nennen Sie uns einen Punkt, an dem Sie sich mit Kritik auseinander setzen?

Bei der Gesundheitsreform zum Beispiel habe ich mich natürlich mit den Argumenten gegen den Gesundheitsfonds beschäftigt, aber nach Überprüfung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir uns etwas Vernünftiges überlegt haben. Viel wichtiger finde ich im Übrigen, dass wir bei allen Einzelthemen und Diskussionen nicht aus dem Auge verlieren, mit welchem übergeordneten Ziel wir das alles machen. Da muss man zunächst zur Kenntnis nehmen, dass die finanzielle Ausgangslage unseres Landes viel ernster ist, als mancher wahrnimmt. Mein Ziel ist: In zehn Jahren wollen wir wieder zu den ersten drei in Europa zählen, bei Beschäftigung, Wachstum, Wissenschaft und Innovation. Das ist sehr ehrgeizig. Man muss sich bei den einzelnen Entscheidungen immer fragen: Geht die Entwicklung in die richtige Richtung und geht sie schnell genug?

Und?

Meine Antwort lautet ja. Wir haben einige erfreuliche Daten: Der Verlust der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist nicht mehr so dramatisch, wir haben mehr Wachstum. Aber wir können uns nicht zurücklehnen, wenn wir in diesem Sommer 180 000 Arbeitslose weniger haben, bei 4,3 Millionen insgesamt. Ich weise darauf hin, dass die Gesetze, die wir in diesem Jahr verabschieden, ihre Wirkung nicht sofort entfalten, sondern manchmal erst in einigen Jahren.

Sind die Erwartungen an die große Koalition zu hoch?

Die Bevölkerung hat zu Recht das Gefühl, dass sich in vielen Jahren vieles aufgestaut hat. Es gibt eine Beunruhigung über die demografische Entwicklung und die Frage, wie wir unseren Lebensstandard halten. Deshalb gibt es große Erwartungen an meine Regierung. Auf der anderen Seite muten wir den Menschen zum Teil wirklich etwas zu, etwa den Rentnern mit niedrigen Renten. Aber Sparen ist keine Sache, die niemand merkt. Alles muss auch immer im Licht einer gesellschaftlichen Debatte gesehen werden, ob die Lasten gerecht verteilt sind. Insofern ist das eine Zeit schwerer Entscheidungen, und umso wichtiger ist es, das Ziel vor Augen zu haben.

Haben Sie sich Ihre Aufgabe vor einem Jahr leichter vorgestellt?

Nein. Ich kenne ja die Diskussionen auch aus meiner eigenen Partei, zum Beispiel über Hartz IV. CDU und CSU sind Volksparteien. Jeder ist der Meinung: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist richtig …

Manche in der Union wollen diese Zusammenlegung aber wieder abschaffen.

Nein, das ist nicht so. Der Grundgedanke, die beiden Transferleistungen zusammenzulegen, bleibt richtig. Wenn es dann zu Details kommt, dann gibt es natürlich auch in der Union eine intensive Debatte. Die Kommunen haben anderes zu bedenken als die Bundestagsfraktion oder die Ministerpräsidenten. Das alles muss im Zusammenhang bewertet und entschieden werden.

Sie regieren mit zwei Volksparteien – gibt es zwischen Union und SPD noch ideologische Unterschiede? Der Sozialismus ist ja untergegangen, und den ungezügelten Kapitalismus gibt es auch nicht mehr …

… aber sehr wohl die Frage, ob der Ordnungsrahmen unserer sozialen Marktwirtschaft sich unter den Bedingungen der globalisierten Welt noch behaupten kann. Die Union hat über die neue soziale Marktwirtschaft nachgedacht. Wie also kann eine internationale Wettbewerbsordnung aussehen? Bei der Welthandelsorganisation haben wir gerade wieder einen schmerzlichen Rückschlag erlebt. Ich glaube nicht, dass wir für alle aktuellen Probleme der Welt schon die richtigen internationalen Strukturen geschaffen hatten. Und das nehmen viele als Verlust der alten Sicherheiten wahr.

Was heißt das für die kleinen Unterschiede in der großen Koalition?

Es ist spürbar, dass in der Union eher von der Eigenverantwortung des Individuums her gedacht wird. Was können wir dem Einzelnen zutrauen und zumuten? In die Kraft der Eigenverantwortung hat die Union mehr Vertrauen als die SPD, die stärker auf den Staat setzt, über Gruppen oder Strukturen. Diese Unterschiede merkt man, das finde ich spannend, und lohnend wird es, wenn man trotzdem zu gemeinsamen Wegen findet.

Gibt es eine parteiübergreifende Tendenz in Deutschland, mehr auf Sicherheit als auf Freiheit zu setzen?

Die CDU und auch die SPD diskutieren ihre Grundsatzprogramme. Dabei entzündet sich am Begriff Freiheit oft die intensivste Debatte. Im Kalten Krieg war klar: Freiheit ist das Gegenteil von Sozialismus. Heute muss Freiheit sich anders rechtfertigen. Die Union sagt: Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit. Das führt in der CDU selbstverständlich zu Diskussionen, die im Übrigen außerordentlich wichtig sind. Ich bin davon überzeugt, dass mehr Sicherheit durch das Gewähren von Freiräumen entstehen kann. Es gibt aber auch eine Tendenz, den Freiheitsbegriff zu sehr von Verantwortung zu lösen. Das ist nicht unser Verständnis. Wir wollen nicht Freiheit von etwas, sondern Freiheit zu etwas. Unser Freiheitsbegriff ist auf Bindung angelegt.

Viele Bürger fürchten einen Freiheitsbegriff, der Deutschland aus der sozialen Marktwirtschaft in die ungezügelte globalisierte Wirtschaft entlässt.

Das ist sicher die Sorge vieler Menschen. Ich habe einen gestaltenden Anspruch von Politik. Die Bundesrepublik hat doch die wunderbare Erfahrung gemacht, die alten Widersprüche von Arbeit und Kapital zu versöhnen. Warum soll das nicht auch in einer Welt gelingen, die doch im Vergleich zu 1945 nicht schlechter, nur anders und vielschichtiger geworden ist? Als Europäer, als Demokratien sollten wir die Kraft zur Ordnungspolitik im 21. Jahrhundert finden. Das ist eine große Auseinandersetzung, sie ist noch nicht entschieden, aber es gibt aus meiner Sicht keinen Grund zum Verzagen.

In der Praxis der großen Koalition geht es oft um kleine Münze, etwa beim Gleichbehandlungsgesetz. Sie sprechen von einer Politik der kleinen Schritte. Die Richtung ist dabei schwer zu erkennen.

Worum es geht, habe ich vorhin beschrieben: unter die ersten drei in Europa zu kommen, unsere Wertvorstellungen von Demokratie und Freiheit, Regeln für den globalisierten Markt umzusetzen. Dann folgt aber die zweite Frage: Mit welchen Konzepten erreichen wir das? Wir wollen uns nicht in den Einzelheiten verlieren, aber Politik kann nicht über den Wassern schweben. Richtlinien aus Brüssel müssen zu Kompromissen geführt werden, wenn Strafgelder drohen. Wenn wir die Mehrwertsteuer erhöhen, folgen etliche kleinere Regelungen. Deshalb sind Koalitionsrunden manchmal Veranstaltungen, deren Bedeutung für das gesamte Mosaik nicht in jedem Moment zu erkennen ist.

Entspricht die große Koalition der Stimmungslage der Nation am besten?

Ich habe im letzten Jahr für eine Koalition mit der FDP gekämpft, weil ich mit ihr die größten Gemeinsamkeiten gesehen habe. Aber ich habe das Wahlergebnis zur Kenntnis genommen, wir alle tun gut daran, das zu tun. Wir haben – Rente mit 67, Gesundheitsreform, Maastrichtkriterien, verfassungsgemäßen Haushalt, Innovationsförderung – einiges auf den Weg gebracht. Ein Vorteil der großen Koalition liegt darin, dass gemeinsame Entscheidungen der Volksparteien gesellschaftlich auf breiterem Grund stehen.

Bei der Reform der Unternehmensbesteuerung hagelt es Kritik: Den Kleinen wird genommen, den Großen wird gegeben. Die Unternehmen sind entlastet worden und schaffen keine Jobs.

Einige schon. Es gehört zu dem schmerzlichsten Teil von Umstrukturierungen, dass große Unternehmen abbauen. Mich treibt außerdem um, dass noch mehr Unternehmen ins Ausland gehen und vor allem, wie hier Arbeitsplätze der neuen Branchen entstehen können, die es anderswo auf der Welt ja gibt. Die Frage lautet: Müssen wir unseren Unternehmen mit anderen Ländern vergleichbare Bedingungen schaffen? Meine Antwort lautet: Ja, wir können nicht national beschränkt fragen, was muten wir wem zu? Wir müssen über unseren Tellerrand schauen, ohne etwa in einen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne zu verfallen. Eine steuerliche Entlastung der Unternehmen wird es übrigens nur in der Anfangsphase geben. Auf mittlere und lange Sicht hoffen wir, dass sogar höhere Steuereinnahmen in die Kasse fließen.

Sind die Unternehmen patriotisch genug?

Unternehmer können eine Verwurzelung in Deutschland haben, und sicher gilt das für Familienunternehmen mit langen Traditionen stärker als für Unternehmen, die sich in breit gestreutem Aktienbesitz befinden. Unternehmen, die zu großen Teilen zum Beispiel amerikanischen Rentenfonds gehören, haben vielleicht ein anderes Verhältnis zum amerikanischen Rentner als deutschen Staatshaushalt. Das muss man sich vor Augen führen. Die CDU beschäftigt sich deshalb noch einmal mit dem Thema der Kapitalbildung in Arbeitnehmerhand.

Die Forderung nach einem Investivlohn ist so alt wie die CDU. Setzt die christlich-demokratische Kanzlerin sie endlich durch?

Wir reden auf dem CDU-Parteitag im Herbst darüber, und ich möchte diese alte Forderung gern verwirklichen. Es gibt allerdings ein Grundsatzproblem: Die Idee funktioniert in guten Zeiten. Was aber passiert in schlechten? Wir können die Beschäftigten kaum mit den Unternehmensrisiken oder Verlusten belasten. Dann wird nach dem Staat gerufen. Aber es gibt in dieser Frage durchaus eine interessante Entwicklung bei den Tarifparteien. Der letzte Metall-Tarifvertrag sieht gewinnabhängige Einkommensbestandteile vor.

Wenn Sie nach den ersten acht Monaten Bilanz ziehen: Ist es ein Vorteil oder ein Nachteil, die erste Frau in diesem Amt zu sein?

In der internationalen Politik habe ich vielleicht sogar einen kleinen Vorteil: Für Frauen fehlen die eingeübten Rollenmuster und das wiederum gibt mir gewisse Gestaltungsfreiheiten. Bei mir kommt ja noch dazu, dass ich aus der früheren DDR und heute den neuen Bundesländern komme und damit einen zum Teil anderen Blickwinkel mitbringe. Ich bin sehr zufrieden damit, dass sich international sehr schnell freundschaftliche Arbeitsbeziehungen eingestellt haben. Die Probleme der Welt sind wirklich massiv, wir brauchen solche Beziehungen dringend. Im Übrigen ist es immer noch nicht so, dass die Männer Angst haben müssten, dass für sie keine Posten mehr da sind.

Wie ist Ihr Verhältnis zu George W. Bush? Täuscht der Eindruck, dass sein Verhältnis zu Ihnen noch etwas besser ist als Ihres zu ihm?

Wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Ich mag seine völlig unkomplizierte Art. Wir können uns bestens austauschen, auch gemeinsam über Lösungen nachdenken. Er hat Humor, er interessiert sich sehr für die Entwicklungen in Deutschland und Europa.

Frau Bundeskanzlerin, kann man Ihre Aufgabe länger als zwei Amtszeiten aushalten?

Diese acht Monate waren unglaublich ausgefüllt, über solche Fragen denke ich gar nicht nach. Ich hab erst einmal die feste Absicht, eine gute Kanzlerin für diese Legislaturperiode zu sein und den Bürgern dann eine Bilanz vorzulegen, die sie zu meiner Wiederwahl überzeugen kann.

Das Interview führten Tissy Bruns, Gerd Appenzeller und Stephan-Andreas Casdorff.

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