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Politik: Wir sind so frei

Von Jost Müller-Neuhof

Der Staat hat schon einmal besser auf uns aufgepasst. Einst hieß es in der Verfassung noch: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.“ Ein Satz wie eine schützende Hand – die das Parlament jedoch vor Jahren teilweise weggezogen hat, als es das Auslieferungsverbot zugunsten der europäischen Integration lockerte. Das Bundesverfassungsgericht muss nach seiner Verhandlung in der letzten Woche prüfen, ob nun Europa seine Hand schützend über die Menschen hält – oder ob „der Mensch vergessen worden ist“, wie ein Experte formulierte.

Wenn Gesetzgebung die Menschen vergisst, hat sie sich erledigt. Die Vorwürfe, die aus Karlsruhe an die Adresse der SupraNationalen in den Brüsseler Glaspalästen drangen, tragen Züge von Bitterkeit. Viele mögen denken: Es ist Zeit, dass einer die Notbremse zieht im Zug nach Europa. Als Hebel, scheint es, eignet sich nichts besser als das Grundgesetz. Grundrechte sind keine D-Mark, die man gegen Euro einzutauschen gezwungen wäre. Sie schwanken nicht mit den Wechselkursen, die Ärmsten der Gesellschaft besitzen sie wie die Reichsten. Grundrechte können Menschen nie vergessen. Sollen sie retten, was Politik – vermeintlich – zuschanden ritt?

Sie können es nicht, und man sollte auch nicht versuchen, sie dafür einzusetzen. Wer die deutsche Verfassung im Jahr 2005 gegen Europäisches Recht ausspielen will, muss beides erst einmal wieder voneinander trennen. Längst ist das Grundgesetz europäisch geworden. Ohne dass Europa bisher eine Verfassung gehabt hätte, hat es sich im Großen und Ganzen an die Grundrechte gehalten. Menschlich müssen außerdem nicht die Gesetze sein, sondern vor allem die, die sie auslegen. Europa hat sich hier nicht von einer unmenschlichen Seite gezeigt. Auf Gesundheitsrisiken durch Feinstaub wurde Berlin erst durch Brüssel aufmerksam, und menschlich, vielleicht schon zu menschlich, war das Bemühen der Brüsseler um Antidiskriminierung.

Das sind nur zwei aktuelle Beispiele, aber sie zeigen, dass zur Feststellung eines stattlichen Verfassungsbruchs immer auch etwas Empirie gehören sollte. Der EU-Haftbefehl birgt die Gefahr, dass ein Deutscher sich im Ausland für etwas verantworten muss, was in der Heimat nicht strafbar ist. Daraus ließe sich mit juristischer Kunstfertigkeit gewiss ein Strick flechten, den man der EU-Legislative um den Hals legen könnte. Schließlich, so ein Richter, könne man in den Niederlanden schon für einen aufgedrängten Zungenkuss als Vergewaltiger bestraft werden. Aber Haftbefehle beschäftigen sich nicht mit Zungenküssen, sondern funktionieren effektiv gegen Drogenhändler und Terrorverdächtige.

Wenn schon etwas gegen das EU-Recht in Stellung zu bringen wäre, dann sind es die Abgeordneten des Bundestags. In ihrer hauseigenen Datei zählen sie, was sie als „europäische Impulse“ in deutsche Gesetze umzuformen haben. In der laufenden Legislaturperiode waren das bisher 182. Obwohl kein Moses diese „Impulse“ vom Berg herabgetragen hat, nimmt man sie zu oft für in Stein gehauen. Autoritätsglaube oder Bequemlichkeit ignorieren die Freiheit, die Europa dem Nationalstaat lässt. Holland etwa liefert seine Staatsangehörigen aus, behält sich aber vor, Strafen zu verkürzen. Auch so geht es. Man muss nicht immer Gerichte bemühen, um Grundrechte zu verteidigen.

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