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2011

© AFP

Politik: Wir Sonntagsfahrer

Das Auto - der Deutschen liebstes Kind? Ja, wenn es denn rollt und nicht im Stau steht. Alternative Mobilität ist gefragt

Wenn Autos eine Seele haben, dann muss der Lincoln Continental Cabrio in eine tiefe Depression gefallen sein. Ein Exemplar des unfassbar großen amerikanischen Autos ging Ende 2010 in Flammen auf. In einer Lagerhalle in Burbank, Kalifornien, brannte der schneeweiß lackierte Straßenkreuzer, Baujahr 1959, bis auf das Blech herunter. Die Feuerwehrleute vom Belmont-San-Carlos-Fire-Departement konnten das Traumauto gerade noch vor dem Schlimmsten bewahren. Doch der Besitzer des Lincoln, der Rockmusiker Neil Young, fand die stolze Karosse nach der Brandnacht in einem erbarmungswürdigen Zustand wieder. Der Lack war ab.

Young beklagte nicht nur die Zerstörung eines chromblechernen Traums aus einem versunkenen Autozeitalter. Der Oldtimer war wirklich etwas Besonderes gewesen: Unter der gigantischen Motorhaube hatte sich nicht mehr der typische 7,5-Liter-V8-Motor befunden – das spritschluckende, bollernde Monstrum –, sondern ein moderner Hybridantrieb. Ein kleiner, mit Biosprit laufender Wankelmotor diente lediglich dazu, eine Lithium-Eisen-Phosphat-Batterie während der Fahrt wieder aufzuladen. So bewältigte der elektrische Lincoln Continental beinahe Distanzen, die auch seine Artgenossen mit Verbrennungsmotor geschafft hatten – bei einem Spritverbrauch von 20 Litern und mehr. Mit dem „Lincvolt“, wie Neil Young sein bizarres Elektroauto genannt hatte, hatte sich der Rockstar einen amerikanischen Traum erfüllen wollen. Ein emissionsfreies Remake. Mit der Heckflosse zurück in die Zukunft. Sein Motto: „Repowering the American Dream“.

Das Projekt „Lincvolt“ der Autobastler aus dem Silicon Valley ist eine verführerische Simulation: Die Zukunft der Mobilität blitzt wie Chrom und bietet den raumgreifenden Komfort wie die Ledersitze in einem 5,8 Meter langen Straßenkreuzer. Aber diese Zukunft ist sauber, frei von Öl und teurem Sprit, frei von C02-Emissionen und Ressourcenverschwendung. Die kalifornische Simulation behauptet, dass Autos – zumal die ganz großen – auf ewig Sehnsüchte wecken nach der Freiheit individueller Fortbewegung, nach dem Middle-of-the-road-Gefühl, das Generationen von Autofahrern teilen, sei es in einem rollenden Wohnzimmer wie dem Lincoln Continental, in einem italienischen Sportwagen oder in einer deutschen Kompaktklasse.

Simulation oder Illusion? So leer wie der Motorraum des umgebauten Straßenkreuzers wird der Blick in die Zukunft, wenn man sich in der Gegenwart umschaut. Westlich von Kalifornien zum Beispiel, jenseits des Pazifiks: in China. Hier lässt sich besichtigen, wohin die ungebremste, hemmungslose Mobilmachung der Städte führt. Der Anachronismus der individuellen Mobilität ist in den Megacitys der Volksrepublik offenkundig: Wo die Menschen mit dem Auto am heftigsten die Hoffnung auf Freiheit, Wohlstand und Lebensqualität verbinden, gerät Mobilität an ein Ende und führt sie zum Stillstand. Und zu der Frage, wie auch wir uns morgen in der Stadt bewegen wollen.

Peking erstickt. Die Hauptstadt des größten Automarktes der Welt steht im Dauerstau. Und die Vorstellungskraft reicht nicht aus, um sich auszumalen, was in fünf, zehn oder zwanzig Jahren sein wird. „Zunächst etwas Schockierendes“, beginnt Frank Schwope, Autoanalyst bei der NordLB, eine Studie über den chinesischen Automarkt. „In China fehlen noch mehr als 600 Millionen Pkw.“ Kommen in den entwickelten Industrieländern 500 Autos auf 1000 Einwohner, sei das Verhältnis in China 35 zu 1000. Hochgerechnet auf 1,3 Milliarden Chinesen, entstehe so eine theoretische Bedarfslücke von 600 Millionen Autos. „Angesichts des gegenwärtigen weltweiten Pkw-Bestandes von cirka 704 Millionen käme ein Erreichen dieses Wertes fast einer Verdoppelung des Bestandes gleich“, rechnet der Analyst. Ein Horror.

Nicht für die Autoindustrie. Ohne den chinesischen Absatzmarkt und die fantastischen Wachstumsaussichten, würde die Branche noch immer unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise leiden. Doch die 150 bis 300 Millionen Chinesen, die sich zur neuen, wohlhabenden Mittelschicht der Volksrepublik zählen, wollen deutsche Autos fahren. Sie wollen raus aus dem konformen Einerlei maroder öffentlicher Verkehrsträger, runter vom Fahrrad oder Motorroller, rein in die nach Leder und Luxus riechende Neuwagenwelt. Volkswagen verkauft heute schon mehr in China als auf dem heimischen Markt, 2010 waren es 1,92 Millionen Fahrzeuge – ein Plus von 37 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Mercedes und BMW produzieren in chinesischen Werken extralange Limousinen der S- und 7er-Klasse nur für chinesische Kunden. Paradox: Während die Regierung in Peking Milliarden in die Förderung der Elektromobilität steckt – auch ein Lieblingsthema der deutschen Bundesregierung, wenn auch ein verschlafenes – explodiert gleichzeitig die Nachfrage nach extravaganten, PS-starken Oberklasselimousinen aus deutscher Produktion. Groß war die Aufregung, als im Herbst vergangenen Jahres Pläne der Pekinger Stadtregierung bekannt wurden, wonach 2011 die Zahl der Autoneuzulassungen halbiert werden soll. Statt jeden Tag 2000 neue Fahrzeuge auf die Straße zu lassen, sollen es nur noch 1000 sein. Seit einigen Tagen werden Nummernschilder nur noch verlost. Die Aktien von VW, BMW, Daimler & Co. stürzten ab, aus der Fantasie der Anleger wurde über Nacht Angst: Kommt China zur Vernunft und die Automobilindustrie ins Schlingern?

Mit seinen offiziell fast 17 Millionen Einwohnern ist Peking nur eine chinesische Metropole unter vielen. Sieben Mega-Cities des Landes haben jeweils mehr als zehn Millionen Einwohner, die größte Stadt, Chongqing, alleine 36 Millionen. Insgesamt 272 Großstädte der Volksrepublik zählen eine Million Einwohner oder mehr. Hält der Trend zur Verstädterung und Landflucht an, und daran zweifelt kaum ein Experte, werden in den kommenden Jahren weitere Megastädte hinzukommen. Und Autos. Nicht nur in China.

Zahlen, die groß und unvorstellbar genug sind, um beides zu provozieren: Größenwahn und Platzangst. Dabei wächst die Zahl der Menschen, denen es zu eng wird, wenn sie an die globale Auto-Multiplikation denken. Sie gehören oft nicht zur Gruppe der Industriekritischen und Umweltbewegten. Sie haben einfach kein Verhältnis zum Auto. Ihre Helden heißen nicht Neil Young, sondern Mark Zuckerberg und Steve Jobs. Ob und welche Autos der Facebook- oder Apple-Gründer fahren, ist ihnen egal, wie für Zuckerberg und Jobs selbst auch. Mythos Auto? Was vor 20, 30 Jahren undenkbar schien, ist heute normal: Autos wecken bei vielen Zeitgenossen keine Gefühle, Autos dokumentieren keinen Status, Autos sind praktisch, und immer häufiger: überflüssig. Wer in einem vernetzten öffentlichen Verkehrssystem lebt, ist, selbst in Berlin, meist schneller am Ziel.

Bei Jugendlichen im Alter von 18 bis 25 Jahren lockere sich die „emotionale Bindung“ zum Auto von Jahr zu Jahr, ergab eine Studie des Center of Automotive, Bergisch-Gladbach, im vergangenen Jahr. Das Statussymbol von einst verliere an Strahlkraft, das Auto werde zu dem, was es am Anfang seiner Geschichte war: ein reines Fortbewegungsmittel. Bis zu einem Drittel der Jugendlichen betrachte das Auto mit einer „neuen Rationalität“. Geachtet werde vor allem auf die Funktionalität und die Kosten, ergab die Studie. „Wer jung und hip ist, distinguiert sich nicht mehr mittels Kraftfahrzeug, sondern mit dem richtigen Mobiltelefon“, schreibt Matthias Penzel in seiner „Auto-Biografie: Objekte im Rückspiegel sind oft näher, als man denkt“. „Alle rasen über den Datenhighway, aber kaum einer reist mehr mit der Ente in den Süden.“

Laut Shell-Jugendstudie 2010 zieht ein großer Teil der jungen Autofahrer praktische Konsequenzen: 44 Prozent versuchen, häufiger mit dem Fahrrad zu fahren und das Auto stehen zu lassen, 39 Prozent entscheiden sich beim Neukauf für ein kleineres Auto. Einen Führerschein besitzen nur noch rund knapp drei Viertel aller 18- bis 25-Jährigen – vor zehn Jahren waren es nach Angaben des Deutschen Mobilitätspanels noch fast 90 Prozent.

Da wachsen in den Metropolen der entwickelten Industrieländer also Mobilitätstypen heran, deren pragmatische Beziehung zum Auto die Industrie vor neue Herausforderungen stellt. Einerseits. In den wachsenden Schwellenländern scheint andererseits der Wunsch der Mittelschichten nach einem eigenen Fahrzeug das Geschäftsmodell der Industrie zu bestätigen. Doch den drohenden Kollaps haben auch hier viele schon täglich vor Augen. Das Immer-weiter-so der Hersteller führt in wenigen Jahren in die Sackgasse.

Bereits im Jahr 2020 könnte sich in den etablierten Automobilregionen Europa, Nordamerika und Japan ein Konsumententyp für Mobilität durchsetzen, für den Umweltverträglichkeit und Lebensqualität die zentralen Auswahlkriterien bei der Wahl des Verkehrsträgers sind. Das Beratungsunternehmen Arthur D. Little hat unter dem Eindruck der zurückliegenden Finanzkrise, in der die Autoindustrie einen bedrohlichen Schwächeanfall erlitt, und vor dem Hintergrund des veränderten Umweltbewussteins und Konsumverhaltens diesen Typus entworfen: den „Greenovator“. Er werde in weniger als zehn Jahren andere Mobilitätstypen dominieren, glauben die Berater, Typen, denen das Auto unbedeutend ist. „Nachhaltigkeit, Individualität und optimierte Kosten treten für die meisten Kundengruppen in den Vordergrund, während Luxus, Motorleistung und anderes nur noch für ein kleineres Kundensegment wichtige Bewertungskriterien sind.“

Der demografische und gesellschaftliche Wandel verändert das Auto: 125 Jahre nach seiner Erfindung rückt es mehr und mehr aus dem Zentrum der Wahrnehmung an die Peripherie und muss sich gegen andere Verkehrsträger behaupten. Moderne Mobilität in den Ballungsräumen und Metropolen ist nicht mehr autozentriert, sie ist intermodal: Nachbarn, Freunde und Kollegen teilen sich ein Auto. Berufstätige bilden Fahrgemeinschaften. Pendler wechseln im Park & Ride von der Straße auf die Schiene. Stadtautos werden gemietet statt gekauft. Das Geschäftsmodell Carsharing, lange eine Nische in den Großstädten, ist plötzlich angesagt.

Hersteller wie Daimler oder Peugeot haben den Trend erkannt und investieren, obwohl sich das Engagement noch nicht rechnet. Wenn aber in Paris, Tokio, New York oder Berlin immer weniger Menschen glauben, dass ein eigenes Auto sie mobiler macht, müssen sich die Anbieter etwas einfallen lassen. Unter dem Label „Car2Go“ oder „Mu by Peugeot“ haben Daimlers Kleinwagensparte Smart und der französische PSA-Konzern in verschiedenen Städten Leihmodelle etabliert.

Daimler wurde vom Erfolg seines „revolutionären Mobilitätskonzeptes“ regelrecht überrollt und hat Car2Go, das 2009 in Ulm startete, auch in Austin/Texas anschieben lassen. Im Frühjahr geht Hamburg mit 300 Smarts ans Netz, weitere Städte sind im Gespräch. Der Charme des Konzepts ist eine Anleihe vom Mobilfunkmarkt: Wie beim Handytelefonieren kostet eine Stunde Smart-Nutzung 19 Cent; pro Stunde fallen maximal 9,90 Euro an. Die Car2Go-Anmeldung wird mit 19 Euro berechnet, Monatsgebühren oder Reservierungskosten gibt es nicht. Eine Flotte von 200 Kleinwagen verteilt sich inzwischen über die 120 000-Einwohner-Stadt Ulm. Wie die Fahrräder der Deutschen Bahn, die in Berlin schon länger zum Stadtbild gehören, können Car2Go-Teilnehmer Smarts rund um die Uhr nutzen, wo sie sie finden. Ein Chip auf dem Führerschein sorgt für die Verbindung zum Auto, nach jeder Fahrt wird der Nutzer per Knopfdruck auf dem Navi abgemeldet.

In größeren Dimensionen denkt man in Paris – mit massiver öffentlicher Unterstützung. Weil Autofahren in der französischen Hauptstadt ein ähnlicher Alptraum wie in Peking ist, will Bürgermeister Bertrand Delanow das größte Carsharing-Netz mit Elektroautos aufbauen. Sein „Autolib“ genannter Plan orientiert sich am erfolgreichen Bikesharing-Modell der Stadt „Vélib“: 3000 E-Fahrzeuge sollen künftig an mehr als 700 Stationen in Paris zur Verfügung stehen und die Nutzung ähnlich wie bei Daimlers Car2Go im Minutentakt abgerechnet werden. Die Ausschreibung läuft noch, auch Daimler hat sich beworben.

Einen Link zwischen Straße, Schiene, Elektromobilität und öffentlichem Verkehr setzt auch die Deutsche Bahn mit ihrem Carsharing-Projekt Bemobility. Ein Teil der Mietwagenflotte der Bahn wurde unter anderem in Berlin mit 50 Elektrofahrzeugen aufgerüstet. An neun Standorten können Bahnkunden auf batteriebetriebene Citrown, Smart oder Toyota Hybride umsteigen, den Strom liefern die beteiligten Energieunternehmen DB Energie, RWE und Vattenfall. Die Elektroflotte ist zu 60 Prozent ausgelastet. „Viele wollen einfach mal ein E-Auto ausprobieren, anders als im Individualverkehr rechnen sich die Fahrzeuge für uns schon“, sagt Rolf Lübke, Geschäftsführer der DB Rent GmbH. Die „Generation X, Y oder Z“ habe keine besondere Affinität mehr zum eigenen Auto, wohl aber zu neuen Technologien. Die Bahn lernt das neue Vokabular: „Wir vermieten keine Autos – wir vermieten Mobilität“, sagt Lübke.

Intermodalität und Vernetzung, Information und Technologie: Die Transformation des städtischen Verkehrs und der individuellen Fortbewegung vollzieht sich in einem begrifflichen System, das die Zielgruppe aus dem Internetkontext kennt. Das Ziel ist eine positive Rückkopplung: Je mehr Nutzer an einem Netzwerk teilhaben oder einen neuen Standard anwenden, desto größer wird der Mehrwert für alle. Das ist die Facebook-Logik. Mark Zuckerberg, der jüngste Milliardär der Welt, fährt einen Acura TSX, eine gewöhnliche Mittelklasse-Limousine der Premiummarke von Honda. Nach seinen persönlichen Interessen befragt, gibt der Facebook-Gründer die Antwort: „Offenheit – den Menschen eine Möglichkeit geben, in Verbindung zu bleiben – Revolutionen – Informationsflüsse – Minimalismus.“ Die Autoindustrie sollte sich mehr für Mark Zuckerberg interessieren.

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