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Politik: „Wir vergessen das Soziale nicht!“

NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers über Reformpläne der Union und die Lebensperspektiven in Deutschland

Die heiße Phase des Wahlkampfs hat begonnen, die Union ist noch nicht im Tritt. Schönbohm, Stoiber – manches klingt doch vielstimmig.

Wir sind auf einem guten Weg, die Umfragen zeigen das. Denn wichtiger als manche Ungeschicklichkeit ist es, dass wir einen Wahlkampf der Ehrlichkeit führen. Wir sagen den Leuten vorher klipp und klar, was wir hinterher machen wollen und werden. Und das sind keine Heilsversprechen, sondern teilweise notwendige, aber schmerzhafte Maßnahmen wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Um die Lohnnebenkosten zu senken.

Sie versuchen demnach, mit unpopulären Inhalten Popularität zu erwerben?

Das funktioniert, weil wir durch Ehrlichkeit Vertrauen in die Politik zurückgewinnen. Und das zählt am Ende mehr und ist auch nachhaltiger als das bloße Schielen auf den Wahltermin.

Ehrlichkeit ist das eine, Zweckmäßigkeit, soziale Ausgewogenheit das andere. Paul Kirchhof, der Unions-Kompetente für Finanzen, kritisiert die Mehrwertsteuererhöhung als Schlag gegen die kleinen Leute.

Moment, Kirchhof ist skeptisch, das stimmt, aber er hat auch gesagt, dass er das mittragen kann, wenn die Familien insgesamt entlastet werden. Und das tun wir ja. Tatsache ist zudem, dass die Bezieher kleiner Einkommen kaum betroffen sind, weil die nur mit reduzierter Mehrwertsteuer belegte Grundversorgung von der Erhöhung ausgeklammert bleibt.

Das ist noch nicht überall angekommen. Die Unzufriedenen mit Rot-Grün wandern momentan eher nach links als zur Union.

Über die Seriosität der Gysi-Lafontaine-Truppe müssen wir nicht viele Worte verlieren. Aber Vorsicht: Gerade nach sieben Jahren Schröder-Regierung ist die Sorge um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland besonders groß. Das darf man nicht verkennen und muss auch der Union Mahnung sein. Meine Botschaft lautet: Wir vergessen das Soziale nicht! Technokratie allein führt nicht weiter.

Nun stehen allerdings nicht nur die Steuerpläne der Union im Ruch des Unsozialen. Sie wollen den Kündigungsschutz weiter lockern, die Arbeitszeit verlängern, die Sozialsysteme schleifen. Tolle strategische Ansätze, um die Linkspartei zu bekämpfen!

Zunächst einmal geht es darum, die gegenwärtige Regierung abzulösen. Denn die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik von Rot-Grün ist auf ganzer Linie gescheitert. Fünf Millionen Arbeitslose sind unsozial. Wenn etwas nicht geklappt hat, dann muss man sich was Neues einfallen lassen und kann nicht einfach so weitermachen. Also müssen wir vieles anders machen. Richtig aber ist, dass wir das den Menschen gut begründen und erklären müssen. Und das können wir nur dann erfolgreich tun, wenn wir uns weiterhin klar zum solidarischen Charakter von Politik und Gesellschaft bekennen. Gäben wir das auf, wie manche Neoliberale, dann hätten wir keine Chance, unsere Politik zu vermitteln. Falsch wäre eine solche Politik obendrein.

Das klingt sehr nach Norbert Blüm, dem Vergessenen. Warum ist der eigentlich in Ihrer Partei mittlerweile geächtet?

Das ist er nicht. Er ist nach wie vor mit Rat und Tat in der CDU Nordrhein-Westfalens gefragt, engagiert und willkommen. Und darüber freue ich mich.

Frau Merkel wendet sich beim Namen Blüm genervt ab. Was kann denn aus Ihrer Sicht der Blick auf die soziale Tradition der Union zur Bewältigung der gegenwarts- und Zukunftsaufgaben beisteuern?

Es ist ganz wichtig, dass wir in unserer Politik wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zusammendenken müssen. Natürlich besteht in den großen Sozialversicherungssystemen erheblicher Veränderungsbedarf. Wir sind da an die Grenzen der Finanzierbarkeit gestoßen. Und auch die Finanzierung der Sozialsysteme über die Lohnnebenkosten hat ein Maß erreicht, wo Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert werden. Das heißt aber nicht, dass die Not tuenden Sozialreformen allein aus wirtschaftspolitischen Zwängen abgeleitet werden dürfen. Sozialpolitik muss genauso wie Wirtschaftspolitik in Wahrheit Ordnungspolitik sein. Das müssen wir neu entdecken, dass Sozialpolitik vor allem soziale Ordnungspolitik ist, die sich in ihrem Wesen nicht auf Wirtschaftspolitik reduzieren lässt. Übrigens: Das mit Angela Merkel stimmt nicht.

Das klingt zu schön, um Union von heute zu sein. Der Grundton ist doch auch hier eher neoliberal.

Vereinzelt gibt es solche Stimmen, aber sie stellen nicht die Mitte der Union da. Und wem das Soziale per se kein Herzensanliegen ist, der kann doch einsehen, dass eine Politik, die darauf verzichtet, einzelne Maßnahmen in einen größeren Rahmen von grundsätzlichen Zielen zu stellen, bald scheitern wird. Das zeigt Hartz IV. Schmerzhafte Einschnitte sind nur durchsetzbar, wenn sie gerecht sind, und gerecht sind sie nur, wenn sie Vertrauen und Verlässlichkeit bieten.

In früheren Zeiten galt dabei das „C“ als Kompass der Union. Eben dieses „C“ will der Kölner Kardinal Meisner den Unionsparteien aberkennen. Hat er Recht?

Nein, denn die CDU ist eine Partei, die sich weiterhin dem christlichen Menschenbild verpflichtet fühlt. Wenn wir das „C“ aufgeben würden, verlöre die Union ihre Mitte und Identität.

Aus Meisners Sicht tut sie eben dies. Liegt der Kardinal ganz falsch? Können Sie nicht verstehen, wie er darauf kommt?

Wenn man seine Kritik als Anfrage und Ansporn versteht, dass wir besser werden, dann hat er Recht. Tatsächlich ist das „C“ so aktuell wie eh und je. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dies unser Signum gegen jedwede Form von Materialismus. Der eine, der Kommunismus, ist besiegt. Aber auch die Reduzierung des Menschen und unserer Lebenswelt auf Erfüllungsgehilfen und Unterfunktionen der Wirtschaft ist eine Form des Materialismus. Auch gegen diese Anfechtung von heute stählt das „C“.

Wie meinen Sie das?

Zunächst einmal hilft uns das „C“, die Probleme in ihrer Tiefe zu sehen. So sind fünf Millionen Arbeitslose auch ein wirtschaftliches Problem, aber noch mehr eines mit Blick auf das christliche Menschenbild und christliche Grundwerte. Denn hinter den nackten Zahlen stecken immer konkrete Menschen – solche in Not, solche in Angst. Es muss einen CDU-Politiker aufregen, wenn die Menschen Angst um ihre Zukunft, vor dem Alter, vor den Lebensperspektiven ihrer Kinder haben. Es kann einen CDU-Mann nicht gleichgültig lassen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren größer geworden ist. Und auch, dass immer mehr junge Menschen nicht mehr richtig lesen, rechnen, schreiben können, muss einen CDU-Politiker mit großer Sorge ergreifen, weil da Lebenschancen verloren gehen. Diese Probleme weisen weit über den Horizont der Wirtschaft hinaus – sie berühren die Möglichkeiten der Menschen, in Würde zu leben, ganz unmittelbar.

Und was bedeutet das praktisch?

Was ich eben sagte: Wir brauchen nicht nur eine wirtschaftliche Ordnungspolitik, sondern eben auch eine soziale, die den Menschen zu Chancen verhilft sowie Berechenbarkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit gewährleistet. Deshalb bin ich beispielsweise dafür, dass wir nach der Bundestagswahl fundamentale Fehler bei Hartz IV beseitigen. Stimmt es, dass sich Leistung lohnen muss, dann kann man jemanden, der 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hat, im Falle der Arbeitslosigkeit nicht so behandeln wie einen, der beispielsweise nur fünf Jahre Versicherungsbeiträge aufgebracht hat …

... die Politik bringt ihn damit um ein Stück seiner Lebensleistung …

… Lebensleistung ist ein zu großes Wort. Lassen Sie es mich so formulieren: Da hat einer sein Leben lang gearbeitet und das getan, was die Politik von ihm verlangt hat, hat Steuern bezahlt, in die Sozialsysteme gezahlt, seine Kinder erzogen – und wird dann mit Mitte fünfzig unverschuldet arbeitslos, weil seine Firma Pleite gemacht hat. So jemand muss doch mehr von den sozialen Sicherungen haben als einer, der noch nie eingezahlt hat. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Es ist aber auch eine der Verlässlichkeit. Denn die Menschen müssen die sie betreffenden Regelungen nachvollziehen können.

Das gilt auch für die Vorsorge im Alter.

Richtig! Die Politik predigt seit Jahr und Tag: Ihr müsst mehr Eigenvorsorge treffen, um die Rente zu ergänzen. Wenn das stimmt, dürfen wir den Menschen, die unter Hartz IV fallen, das, was sie zurückgelegt haben, nicht als Erstes wieder wegnehmen. Das ist falsch und muss geändert werden. Daher setze ich mich dafür ein, dass die private Alterversorgung im Fall der Arbeitslosigkeit vom Staat nicht mehr herangezogen werden darf.

Sie wollen das Soziale stärken, aber mit der FDP koalieren. Das passt zusammen?

Bei uns in Nordrhein-Westfalen klappt das. Alles steht in unserem Koalitionsvertrag. Und das könnte doch ein schönes Vorbild für den Bund sein.

DasGesprächführtenStephan-Andreas Casdorff,LorenzMaroldt und PeterSiebenmorgen. Das Foto machte Thilo Rückeis.

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