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Politik: „Wir werden alle dichtmachen müssen“

Kleine und mittlere Betriebe werden die Auflagen der EU kaum erfüllen können

Istanbul - Wenn ein Istanbuler Autofahrer in der Innenstadt einen Auspuffdefekt entdeckt, dann weiß er, wohin er fahren muss. In der Dolapdere-Straße in einem Tal unterhalb des Taksim-Platzes im Herzen der Stadt reiht sich eine kleine Autowerkstatt an die nächste. „Egzoz“ – „Auspuff“ – steht auf vielen der teils selbst gemalten Schilder. Auch der Laden von Hasan Yigit ist so eine Auspuff- Bude. In der kleinen Garage riecht es nach Öl, an den Wänden hängen Auspuffe der verschiedensten Sorten, und in der Grube macht sich der Mechaniker Mehmet Bostanci an der Unterseite eines alten Renault zu schaffen. Seit 13 Jahren betreibt Yigit seine Werkstatt mit drei Angestellten, aber das Ende ist abzusehen. Die EU wird ihm den Garaus machen, befürchtet er.

Wenn am 3. Oktober die Beitrittsverhandlungen zwischen Ankara und der EU beginnen, dann beginnt für die Türkei ein schmerzhafter Veränderungsprozess. Viele europäische Vorschriften wird das Land übernehmen müssen, wenn es eines Tages Mitglied werden will. Wirtschaftsexperten sagen schon jetzt den Bankrott vieler Kleinbetriebe voraus. Neun von zehn Unternehmen des Landes zählen zu den kleinen oder mittleren Firmen.

Auch Yigit weiß, dass seine Werkstatt bei Arbeitssicherheit und Umweltschutz alles andere als europafähig ist. Bis vor kurzem noch habe er das Altöl aus seinem Betrieb einfach auf der Straße verbrannt, erzählt er. In der Grube schweißt Yigits Helfer Bostanci an einem Auspuff herum, doch er trägt dabei weder Schutzbrille noch Handschuhe. Fünf bis zehn Minuten brauche er, um einen Auspuff auszuwechseln, erklärt Bostanci stolz. Dazu gehört viel Erfahrung – und die hat Bostanci trotz seiner erst 24 Jahre. Gleich nach der Grundschule, als zwölfjähriger Knirps, fing er bei Yigit an. Eine formelle Ausbildung gab es für ihn nicht.

So geht es in den meisten Kleinbetrieben der Türkei. Gelernt wird beim Zuschauen und dann beim Selbermachen. Geregelte Arbeitszeiten, Urlaub, Berufsschule, Fortbildungskurse – all das sind für die meisten Arbeiter wie Bostanci Fremdwörter. Für Werkstattbesitzer wie Yigit sind solche Arbeitskräfte billig und flexibel. EU-tauglich sind diese Arbeitsverhältnisse aber nicht.

Eine funktionierende Marktwirtschaft mit wettbewerbsfähigen Unternehmen, die auf dem europäischen Markt bestehen können, so lauten die Anforderungen der EU an die Wirtschaft eines jeden Beitrittslandes. Dass die Türkei eine funktionierende Marktwirtschaft hat, ist angesichts ihres stabilen Wachstums, der sinkenden Inflation und des wachsenden Pro-Kopf- Einkommens unstrittig. Schwieriger ist es mit der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen auf dem europäischen Markt.

Hasan Yigit wird nicht von heute auf morgen alle Auflagen, Vorschriften und Bestimmungen erfüllen, die in der EU für Betriebe wie seine Werkstatt gelten. Doch im Laufe der Beitrittsverhandlungen wird die Türkei nicht nur die europäischen Regeln übernehmen, sondern nach einigen Übergangsfristen auch auf deren Umsetzung achten müssen. Betriebe wie der von Yigit werden eines Tages von den nach EU-Vorstellungen reformierten türkischen Behörden kontrolliert. Spätestens dann wäre er am Ende – so viel ist ihm klar: „Die kleinen Betriebe werden alle dichtmachen müssen.“

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