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Politik: Wir zuerst

Die Jungen spielen im aktuellen Wahlkampf keine Rolle – obwohl sie die Zukunft meistern sollen. Ohne Zusammenarbeit von Alt und Jung wird der Staat handlungsunfähig: Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Von Lutz Haverkamp

WO WIR STEHEN

Die Jungen tragen den Individualismus als Lebensentwurf zu Grabe, aber das interessiert in Deutschland niemanden. Die Jungen sind nicht wichtig in Deutschland, weil nicht sicher ist, ob sie wählen gehen. Sie sind nicht wichtig, weil sie im Vergleich zu den älteren Generationen eine zu vernachlässigende Größe darstellen. Die junge Generation, die 18- bis 30-Jährigen, garantieren jedenfalls keinen Wahlsieg, wie die große Masse der über 60-Jährigen. Die Jungen stehen deshalb noch nicht mal mehr unter Finanzierungsvorbehalt, womit die Politik gern Zukunftsthemen wie Bildung, Kinderbetreuung oder Forschung ausbremst. Die Jungen sind gar nicht mehr zu finanzieren, deshalb finden sie in diesem Wahlkampf nicht statt.

Dabei ist das Potenzial an Energie, Kreativität und an Einsicht innerhalb der jungen Generation groß. Philipp Mißfelder, Chef der Jungen Union, sagt: „Die jungen Erwachsenen, denen unterstellt wird, sie würden in den Tag hinein leben, denken wesentlich langfristiger als die Politiker, die heute entscheiden.“ Wirklich nachhaltige Untersuchungen wie der dritte große Jugendsurvey am Deutschen Jugendinstitut in München werden ignoriert. Die etablierte Politik stellt diesen Jungen enorme Belastungen in Aussicht, aber keinen Zukunftsentwurf, an dem sie mitarbeiten können.

In der seriösen Forschung sind Wissenschaftler entsetzt über die Ignoranz der Politik. Denn der Konsens für einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Alt und Jung erscheint trotz der drängenden Probleme so realistisch wie nie. Die Politik ist dabei, diese Chance zu verspielen und schürt mit Nichtstun einen Generationenkonflikt, an dem die Gesellschaft eines Tages zerbrechen könnte. Der Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, sagt zur Frage der demografischen Entwicklung und der Rentenanwartschaft der jungen Generationen, sie sei „ inzwischen zum verfassungsrechtlichen Ernst und Spannungsfall größter Dimension geworden“.

Sowohl bei den Zwölf- bis 15-Jährigen als auch bei den 16- bis 29-Jährigen nimmt der pure Drang zur Selbstverwirklichung zu Gunsten eines neuen Pflichtbewusstseins ab. Soziale Werte gewinnen stark an Bedeutung. Die Suche nach Sicherheit, Ordnung und Gemeinschaft wird vor allem von der jüngeren Generation getragen.

Jugendforscher sagen, dass das Streben nach Selbstverwirklichung und Individualisierung der älteren Generationen bis hinein in die frühen 90er Jahre zu den Orientierungsproblemen geführt habe, die die heutige junge Generation hat. Die Konsequenzen sind nicht wie bei der 68er-Generation öffentlich oder politisch, sondern es sind private: Gemeinschaft, stabile Ordnung, pragmatische Lösungen, das wünschen sich die Jungen. Dafür engagieren sie sich weniger in politischen Parteien, aber umso mehr in anderen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen.

Die Jungen sind der Zukunft zugewandt, Null-Bock ist out. Der Sozialforscher Stephan Leibfried sieht allerdings „ein ernsthaftes Potenzial an Menschen, das in Deutschland dabei ist, sich zu einer neuen Unterschicht zusammenzufinden“. Diese neue Unterschicht, die nicht nur durch materielle Armut, sondern auch durch Verwahrlosung und mangelnde Bildung gekennzeichnet ist, ist von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Für Jugendliche ist diese Gefahr am größten, schon heute leistet sich die Gesellschaft, dass jährlich zehn Prozent der Jugendlichen kein Äquivalent zum Hauptschulabschluss besitzen; 20 Prozent bekommen keine Ausbildungsstelle oder keinen Job, weil auch der Hauptschulabschluss als Qualifikation selten ausreicht. Die Zahl armer Kinder ist auf rekordverdächtige 1,7 Millionen gestiegen.

Die Zahlen sind nicht zu ignorieren: Schon Neugeborene kommen mit einer schweren Last zur Welt. Knapp 18000 Euro Schulden hat jeder Bundesbürger im Schnitt zu schultern, legt man die Gesamtverschuldung des Staates auf seine Bürger um. 1,5 Billionen Euro haben die Politiker in Bund, Ländern und Kommunen seit 1949 angehäuft, und jede Sekunde kommen 1700 Euro hinzu. Allein die Zinszahlungen des Bundes kosten den Steuerzahler jedes Jahr 67 Milliarden Euro – ohne dass die Schuldenlast auch nur um einen Euro leichter würde. Von Tilgung wird geredet, getan wird nichts, der Staat macht neue Schulden, Jahr für Jahr. Jeder neunte Euro, der in Deutschland an das Finanzamt überwiesen wird, geht an die Gläubiger des Staates. Der macht jedes Jahr wiederum etwa so viel neue Schulden wie er Zinsen zahlt.

Ohne eine radikale Umkehr in der Finanzpolitik wird den heute jungen Menschen und den ihnen nachfolgenden Generationen eine Last aufgebürdet, die sie zwar nicht zu verantworten haben, für die sie aber teuer bezahlen müssen. Folgen: Die Steuern steigen schon deshalb, weil die Schulden und die Zinslast bezahlt werden müssen. Der Staat wird handlungsunfähig. Er hat immer weniger Mittel zur Verfügung, um seinen eigentlichen Aufgaben nachkommen zu können. Das Ergebnis sind eine hohe Steuerbelastung des Einzelnen bei weniger Leistungen des Staates für alle Bürger.

Vor 20 Jahren fragte der Vordenker Ralf Dahrendorf: „Was, wenn die Hoffnungen der Menschen sich auf einmal vom Staat abwenden, weil er nicht mehr als wohlwollend empfunden, sondern als teurer Versager gesehen wird.“ Dahrendorfs negative Vision ist Wirklichkeit geworden.

WAS WIR TUN MÜSSEN

Die Konsequenz aus der jetzigen politischen Situation ist daher ein neuer Gesellschaftsvertrag, der die Frage beantwortet: Was hält uns zusammen? Und der den vorhandenen, aber weitgehend ungenutzten Bürgersinn wandelt in aktive Solidarität. Es kann hier zunächst nur um das Prinzip gehen, die Verdeutlichung einer Idee, die, zugegeben, unter den gegebenen Bedingungen schwierig umzusetzen erscheint. Kein Vorschlag kann sinnvoll genug sein, als dass er nicht mit der großen Argumentationskeule der Besserwisser und Rechthaber erschlagen wird. Veränderung braucht aber genau das: einen Ansatz, der scheinbar Unverrückbares zunächst einmal in Frage stellt.

Es ist die Gesellschaft selbst, die ein neues, intensiveres Klima schaffen muss, in dem es selbstverständlich wird, dass alle für alle da sind und jeder daraus einen größeren Nutzen für sich selbst ziehen kann. Freiwilligkeit wird nicht zur Pflicht, sie wird zur Selbstverständlichkeit.

Um ein neues gesellschaftliches Klima des Aufbruchs statt der Angst zu verankern, brauchen wir einen neuen Begriff von Solidarität. Solidarität kann nicht mehr nur bedeuten, dass allen geholfen wird, sondern ist die Verpflichtung, den anderen zu helfen. Die Freiheit, die wir brauchen, ist keine Freiheit von Verantwortung, sondern Freiheit durch Verantwortung, „tätige Freiheit“, wie es Dahrendorf ausdrückt, damit die abstrakte Gesellschaft wieder zu einer Gemeinschaft wird. Diese Gemeinschaft konstituiert sich durch Bildung – Bildungspolitik ist zugleich Familien- und Sozialpolitik, weil sie die Interessen aller Generationen miteinander verknüpfen kann.

Bildung erhöht die Chance auf Jobs, Jobs erhöhen die Chance auf stabile Lebensverhältnisse, stabile Lebensverhältnisse erhöhen die Chance auf Solidarität zwischen den Generationen.

Unter den Prämissen, dass Starke für Schwache einstehen und Hilfsbedürftigen geholfen wird, muss der neue Gesellschaftsvertrag einen Grundsatz zum Gesetz erheben: Keine Leistung der Gesellschaft mehr ohne Gegenleistung des Einzelnen.

Das klingt nach Hartz IV für alle, nach sozialer Kälte und staatlicher Abzocke. Aber es ist der gesellschaftliche Konsens darüber, dass der Einzelne nach seinen Möglichkeiten versucht, an die Gesellschaft etwas zurückzugeben. Das Motto kann sein: Jeder nach seinen Möglichkeiten, die kreative Zerstörung alter Strukturen ist erwünscht.

Das könnte so aussehen:

Studenten: Akademiker müssen Studiengebühren zahlen – die Leistung die sie in Anspruch nehmen, muss vergolten werden. Wer kein Geld hat, ist in der Lage, nach dem Studium und erfolgreicher Jobsuche an die Gesellschaft zurückzuzahlen. Es gibt aber auch die Möglichkeit, während oder nach dem Studium mit ehrenamtlichem Engagement seine Schuld(en) wettzumachen. Also: entweder zahlen oder „zivilen Dienst“ leisten.

Schüler: Schüler sollen sich beispielsweise in der Hausaufgabenhilfe für Grundschüler engagieren, alten, bedürftigen Menschen helfen, Parks oder Grünflächen pflegen und Ähnliches – als Gegenleistung könnten sie schneller einen Studien- oder Ausbildungsplatz bekommen. Der Schüler entscheidet, wie viel Zeit er aufwenden will, die wird ihm angerechnet. Die Wahl der Gegenleistung ist frei, ohne sie gibt es keine Leistung.

Unternehmen: Unternehmen jeder Größe sollen sich wohltätig im Sinne aller engagieren, Ausbildungsplätze schaffen oder Stiftungen gründen; sie sollen spenden – zum Beispiel Altenheime oder Krankenhäuser sponsern, unentgeltliche Kinderbetreuung gewährleisten und ihren Mitarbeitern kostenlose Verköstigung stellen. Als Gegenleistung werden diesen Betrieben Sonderregelungen zugestanden, unter anderem Steuererleichterung. Für ihre Leistung muss den Unternehmern als Gegenleistung die Wettbewerbsfähigkeit und der Wettbewerb erleichtert werden – zum Beispiel bei öffentlichen Ausschreibungen.

Arbeitslose: Arbeitslose sollen ihre Zeit zum Teil auch der Allgemeinheit zukommen lassen. Natürlich steht ihnen Versorgung und Förderung zu. Aber auch sie müssen dafür etwas tun. Ein arbeitsloser Bäcker, ein Architekt, ein Arzt, ein Kfz- Mechaniker kann Wissen weitervermitteln und einsetzen: in Schulen, Seniorenheimen, Vereinen und Krankenhäusern.

Rente/Pflege : Die komplette Verlagerung der immensen Kosten vom Staat auf den Bürger würde das Solidarprinzip konterkarieren. Dennoch muss dem Bedarf nach Geld und Leistung – beides wird künftig steigen – begegnet werden. Auch hier sollte das Prinzip gelten: Es muss eine Leistung für eine Gegenleistung geben. Die Gegenleistung haben Alte und Kranke oft schon während der vergangenen Jahrzehnte gegeben, die Leistung brauchen sie jetzt. Diese kann nur von Jüngeren und Gesünderen mit übernommen werden: von Studenten oder Hochschulabsolventen, von qualifizierten Arbeitslosen und anderen Ehrenamtlichen – und von Unternehmen. Aber auch von älteren Menschen selbst. Damit die Kompetenz, das Wissen und die Kraft von Senioren weiterhin für die Gesellschaft genutzt werden können – und Ältere an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt bleiben – sollten auch sie in die freiwillige Hilfe eingebunden werden.

Längst verändert sich die Gesellschaft hin zu mehr Solidarität. Auf dem Land wird Generationenwohnen wieder modern, in der Stadt nehmen Bürger- und Elterninitiativen fern der öffentlichen Wahrnehmung zu. Zugleich wächst bei den Jungen das Bedürfnis nach einem Generationenpakt. Niemand will einen Generationenkrieg. Zwei Weltkriege haben den älteren Generationen viel genommen – Leben, Heimat, Besitz. Von dem, was die Alten aufgebaut haben, profitieren jetzt auch die Jungen. Sie erben laut einer Studie im Auftrag des Sozialministeriums jährlich 39 Milliarden Euro, ohne Wiederaufbau, ohne Trümmerfrauen, ohne Wirtschaftswunder. Das ist ein glücklicher Umstand und Verpflichtung zugleich.

Die Jüngeren wollen lernen, die Älteren gebraucht werden. Beides ist möglich, wenn das Generationenprojekt zur nationalen Aufgabe wird und die Bildungspolitik zur zentralen Säule der Sozialpolitik. Beides haben die Vorsitzenden der Berichtskommissionen für den Kinder- und Jugendbericht und den Familien- und Altenbericht gefordert. Nationale Aufgaben, heißt es „verlangen national ausgerichtete Antworten der Politik. Ein Gesellschaftsvertrag, unter dem Motto „Wir zuerst“, wäre eine nationale Antwort und ein Signal für die Zukunft.

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