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Brücke zwischen Europa und Asien: Die Sonne geht auf über Istanbul.

© REUTERS/Jamal Saidi

Wirtschaftsbeziehungen: Die Türkei ist mehr als Erdogan - vor allem langfristig

Bashing hilft nicht weiter: Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei dürfen in der Krise nicht aus dem Blick geraten. Ein Gastbeitrag.

Die deutsch-türkischen Beziehungen gehen zurück bis in das 18. Jahrhundert. Im Jahr 1719 wird eine Delegation unter Leitung von Asim Efendi nach Berlin entsandt. Das muss man nicht wissen. Aber – und das wissen alle – knapp 300 Jahre später scheinen die Beziehungen ihren Tiefstand erreicht zu haben. Die Entwicklungen in der Türkei, aber auch der Bundestagswahlkampf 2017, leisten ihren Beitrag dazu.

Politische Auseinandersetzungen in politisch schwierigen Zeiten sind ein bisschen wie Schattenboxen in der Eiszeit. Dabei gibt es eine Grundregel in der Diplomatie: Die Beziehungen müssen nicht immer gut und nicht immer schlecht sein; in jedem Fall aber müssen sie professionell sein. Betrachtet man die letzten Monate, erscheint das Politische alles andere als professionell.

Nun ist bekannt, dass viele Politiker nur an die nächste Wahl denken. Echte Staatsmänner und -frauen aber zeichnen sich durch langfristiges Denken aus. In der Wirtschaft gilt schlicht „time is money“. Die Zeit, die durch gegenseitiges Drohgebaren verschenkt wurde, hat nichts geändert und nichts verbessert.

Das Türkei-Bashing einiger Politiker hat die Partei-Prozente bei der Bundestagswahl nicht erhöht, im Gegenteil. Profitiert hat nur die AfD. Die vorhandenen Gräben wurden nicht zugeschüttet, sondern verstärkt. Ein auf deutscher Seite angedeuteter Handelsboykott hat den deutschen Firmen nichts gebracht. Stattdessen hat die Türkei ihre Beziehungen zu Russland, zum Iran und zu Aserbaidschan ausgebaut. Man kann nur hoffen, dass der nächste Außen- und Wirtschaftsminister die Interessen der deutschen Wirtschaft nie aus dem Blick verliert. Tatsache ist: Regierungen kommen, Regierungen gehen. Und ganz egal, wer gerade wo regiert und poltert: Die Handels-Karawane zieht weiter. Es wäre schade, die Karawane ziehen zu lassen, ohne Rücksicht auf die historischen und wirtschaftlichen Verflechtungen.

Auch aus integrationspolitischer Sicht war und ist es unklug, einseitige Loyalitäten einzufordern oder zu unterstellen. Fakt ist, dass sich Menschen in ihre Sprache und Kultur flüchten, wenn die Bedingungen für ihre Integration nicht geschaffen werden oder nicht optimal sind.

Apropos Kultur: Kultur kann im Integrationsprozess eine Brücke schlagen und Mehrwert sein, für beide Seiten. Ich wage sogar zu behaupten, dass Kultur eines der klügsten und effektivsten, weil subtilsten Integrationswerkzeuge ist. Da im Moment auch über die Integration rechtsextremer Deutscher oder AfD-Wähler gesprochen wird: Ein Verständnis für die Türkei und „die Türken“ könnte auch über hiesige gemeinsame kulturelle Veranstaltungen gelingen. Gerade jetzt, wo viele türkische Künstler Unterschlupf im deutschen Exil gefunden haben, könnte man diesen kulturellen Faden aufnehmen und das enorm kreative Potential nutzen.

Pauschalurteile sind zu einfach

Man muss bei aller Wut versuchen, langfristig zu denken und dementsprechend zu handeln. Ich weiß, es ist nicht immer leicht. Aber es ist auch nicht fair, eine Partei und einen Politiker als Vorwand zu nehmen, um ein ganzes Land und sein Volk zu verteufeln. Die Türkei besteht nicht nur aus einer Partei und einem Politiker. Die Türkei ist nicht nur AKP unter Erdogan. Die Türkei ist auch das Land von Orhan Pamuk, Hrant Dink, Yunus Emre und Hacibektas Veli, um nur einige zu nennen. Die Liste der türkischen Dichter und Denker ließe sich unendlich erweitern. Ja, sogar der Nikolaus kommt aus Myra.

Pauschalurteile und Pauschalverteufelungen sind also nicht fair. Hier machen es sich einige sehr einfach. Genau wie die Nazi-Vergleiche – immer einfach, aber nie fair. Die Historiker könnten dazu sicher viel sagen. Aber auch andere Experten aus anderen Bereichen könnten ihren Beitrag zur Lösung von Problemen in Krisenzeiten leisten. Von Politikern kann man eine derart wissenschaftliche Herangehensweise nicht erwarten, von Wissenschaftlern schon. Politiker reißen Brücken manchmal ein. Eine Wissenstransfer-Brücke jedoch könnte reparieren, was zu Schaden gekommen ist.

Klar ist, dass die deutsch-türkischen Beziehungen knapp 300 Jahre alt und sehr vielfältig sind. Ebenso vielfältig sind die über drei Millionen türkeistämmigen Menschen in Deutschland. Für deren Integration, für die Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt, lohnt es sich, die Beziehungen wieder vorsichtig aufzunehmen und zu normalisieren. Ich sagte es bereits: Regierungen kommen, Regierungen gehen. Nichts bleibt, wie es ist. Zeit, den Faden wieder aufzunehmen und das Eis ein wenig aufzutauen. Denn letztendlich: „time is money“ und die Handels-„Karawane zieht weiter“. Ziehen wir unsere Vorteile daraus.

Bilkay Öney, SPD, war von 2011 bis 2016 Landesministern für Integration in Baden-Württemberg. Zuvor war sie von 2006 bis 2011 Abgeordnete im Abgeordnetenhaus von Berlin.

Bilkay Öney

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