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Politik: Wo bleibt der Aufschrei gegen das Triviale?

Von Wolfgang Schäuble

Wer nach langer Zeit wieder nach Moskau kommt, traut seinen Augen kaum: Staus ohne Ende, in denen nunmehr auch für immer mehr Russen erschwingliche westliche Autos feststecken,ein üppiges Warenangebot in den Geschäften, ja sogar die derzeit größten Konsumtempel Europas stehen hier. Gleichzeitig aber ist viel Armut sichtbar. Die Gesellschaft scheint zerrissen, die soziale Schere weit geöffnet.

Wer sich interessiert und dazu die notwendige Zeit aufzubringen vermag, der kann sich aus einer Vielzahl von Zeitungen informieren, in denen die Regierenden gelobt oder beschimpft werden. Beim Fernsehen ist es da schon schwieriger, Berichte und Kommentare aus verschiedenen Blickwinkeln zu finden – zumal für die Masse der Bevölkerung, die sich mangels Zugang zu einem breiteren Kabelprogramm fast ausschließlich aus dem Angebot der staatlich kontrollierten Sender informiert. Und deren Programm konzentriert sich immer mehr auf wohlwollende Nähe zur politischen Führung des Landes. Größere Aufregung, gar brodelnder Missmut hierüber lässt sich allerdings nicht feststellen. Offensichtlich hat der Drang nach Konsum vielfältiger Waren den Wunsch nach vielfältiger Information auf die Plätze verwiesen und zu einer gewissen Gleichgültigkeit in der Bevölkerung geführt.

Zurück in Deutschland, wirkt der Blick in unser TV-Programm ernüchternd: Immer leichtere Kost auf fast allen Kanälen, das Austesten von Geschmacksgrenzen scheint reizvoller als das Ausleuchten politischer Hintergründe. Niveauvolle Information wird verdrängt in Nischen oder beschränkt auf spezialisierte Sender. Im Streben nach Quote hat das Triviale eindeutig die Oberhand – auch dagegen kommt es nicht zum Aufschrei.

Vor wenigen Tagen haben wir uns an den Fall der Mauer erinnert, die als Symbol stand für Unfreiheit und Unrecht und für ein gestörtes Verhältnis des Regimes jenseits des eisernen Vorhangs zur Darstellung der Wirklichkeit. Die Menschen haben die Mauer nicht zuletzt deshalb überwunden, weil sie nicht gewillt waren, sich zwingen zu lassen zum Verzicht auf beides, auf Waren und auf Wahrheit. Beides lässt sich aber auch nicht voneinander trennen. Vielfalt gehört zum wirtschaftlichen wie zum politischen Wettbewerb, und ohne Vielfalt kann es Freiheit nicht geben. Ohne Freiheit im Zugang zu vielfältiger Information kann Demokratie nicht funktionieren. Dies gilt auch in unserer globalisierten Welt, wo die kritische Distanz zwischen Medien und Politik und eine um Ausgewogenheit und analytische Tiefe bemühte Berichterstattung von entscheidender Bedeutung bleibt.

Uns Deutschen ist heute aufrichtig daran gelegen, dass die Modernisierung in Russland gelingt. Auch wir selbst sollten aber achtsam bleiben, dass wir Freiheiten, für die sich viele Menschen in der Welt mutig einsetzen, nicht bei uns durch Gleichgültigkeit verspielen. Denn Gleichgültigkeit kann zu einem der mächtigsten Feinde der Freiheit werden, in Moskau wie bei uns.

Der Autor ist Mitglied des CDU-Präsidiums und schreibt die Kolumne im Wechsel mit Richard Schröder und Antje Vollmer.

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