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Politik: Worauf wir hoffen

WAR DAS EIN JAHR!

Von Harald Martenstein

Es war kein gutes Jahr, dieses 2002. Die Wirtschaft ist schlecht gelaufen, dem Staat geht immer noch ein bisschen mehr das Geld aus. Und im Mittleren Osten steht wahrscheinlich ein Krieg vor der Tür.

Was war gut an diesem Jahr? Das Volk hat also seine alte Regierung wiedergewählt. Der Kanzler dachte: Ich verstehe. Die Leute möchten, dass alles beim Alten bleibt. Und die Regierung hat getan, was in der Vergangenheit meistens gut ankam. Sie sprach davon, behutsam hier und dort ein wenig herumzudoktern und herumzuflicken. Alles würde wieder einmal ein bisschen teurer werden. Aber im Prinzip würde alles bleiben, wie es ist. Die Arbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung, das Rentenproblem, das Bildungsdesaster… da bekam ein großer Teil des Volkes plötzlich einen heftigen Wutanfall. Es hat anscheinend vom Problemevertagen und vom Geschontwerden die Nase voll. Es will offenbar eine tatkräftige Regierung, keine geschickte oder pflegeleichte oder trickreiche. Man nennt das „Mentalitätswechsel". Das zum Beispiel ist gut.

„Utopie" und „Vision" – diese beiden Worte sind in der deutschen Politik seit Jahren belächelt worden. Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen: So lautete die gängige Meinung. Die Mehrheit der Deutschen denkt pragmatisch.

Seltsam: Die meisten Leute reden trotzdem mit viel mehr Respekt über Politiker wie Herbert Wehner, Franz Josef Strauß, Willy Brandt oder Konrad Adenauer als über deren heutigen Nachfolger. Warum diese Verklärung der Vergangenheit? Auch deshalb, weil damals die Sozis noch Sozis waren, und Konservative noch Konservative. Man war für sie oder lehnte sie ab, aber man wusste wenigstens, wofür sie standen.

Der Pragmatismus glänzt nicht mehr ganz so hell, die Worte „Utopie" und „Vision" klingen nicht mehr ganz so lächerlich. Denn wenn es stimmt, dass sich in Deutschland vieles ändern muss, damit das Land leistungsfähig und wohlhabend bleibt, dann möchte man auch wissen, wohin die Reise geht. Solange es um Schönheitsreparaturen geht, ist Pragmatismus okay. Bei einem Umbau aber muss es einen Plan geben. Eine Vorstellung davon, wie Gesellschaft aussehen soll, ein Menschenbild, Kriterien für richtig und falsch, gut und böse. Also genau das, was unsere Politiker sich in den letzten Jahrzehnten mühsam abgewöhnt haben. Auch ihre Mentalität wird sich ändern müssen.

Utopie, Vision, Hoffnung – all diese Begriffe verwiesen immer auf eine Zukunft, die besser sein wird als die Gegenwart. Sie haben ihre Bedeutung verändert. Die meisten von uns wären schon zufrieden, wenn es nicht schlechter wird oder wieder so gut wie vor ein paar Jahren. Das, was es immer in der Bundesrepublik für die meisten gegeben hat – Wohlstand und Sicherheit –, erkennt man plötzlich als das, was es ist: eine historische Ausnahme, ein Glücksfall, nichts Selbstverständliches. Vielleicht haben wir tatsächlich eine Zeit lang in einer Art Utopia gelebt und es gar nicht gemerkt?

Am Ende eines solchen Jahres also macht diese Zeitung eine Sonderausgabe zum Thema „Hoffnung". Wie soll man das verstehen? Ganz undramatisch: als eine kleine Ermunterung. Wir brauchen gute Laune, Zuversicht, Mut. Wir müssen aufhören zu jammern und anfangen, etwas zu tun. Denn es geht uns trotz aller Probleme gar nicht so schlecht, die Lage ist keineswegs aussichtslos. Wir stehen wieder einmal vor einem Tor, wie so oft in der Geschichte, und durch dieses Tor müssen wir hindurch, auf die andere Seite. Nicht alles, was auf der anderen Seite auf uns wartet, wird gut sein. Aber einiges davon bestimmt.

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