zum Hauptinhalt

Politik: Worüber man nicht spricht

Von Richard Schröder

Wolfgang Schäuble hat in unserer Debatte zur Folter das Wort Tabu eingeführt. Es muss Tabus geben. Dem stimme ich zu. Aber das ist ein tückisches Thema.

Tabu bedeutet in Polynesien unberührbar, unantastbar. Verwirrend für uns ist, dass dort beides tabu ist, das Heilige und das Unreine, der Herrscher und der Verbrecher, wie lateinisch sacer. Tabu ist einerseits was man nicht tut, andererseits worüber man nicht spricht. Die Betonung liegt auf „man“. Tabus diskutiert man nicht.

Jesus von Nazareth war ein Tabubrecher. „Der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Er hat es abgelehnt, für Tabus Menschenopfer zu bringen. Er hat sich mit den Unberührbaren eingelassen und den Vorwurf eingehandelt, er sei „der Zöllner und Sünder Geselle“. Andererseits war er ein Tabuverschärfer. Nicht erst wer jemanden tötet, sondern schon wer ihn verflucht, macht sich schuldig. Wer die Frau des anderen begehrt, begeht im Herzen Ehebruch.

Enttabuisierung ist ein ambivalentes Kennzeichen unser Kultur. Wir haben den Verbrecher enttabuisiert, indem wir ihn nicht in Acht und Bann legen, sondern zwischen Person und Werk unterscheiden. Wir bestrafen ihn, aber vernichten ihn nicht. Wir haben Herrschaftsverhältnisse enttabuisiert, indem wir sie nach dem Kriterium der Menschendienlichkeit prüfen. Wir haben die Natur enttabuisiert. Berge sind uns nicht heilig. Wir untertunneln sie oder graben Bergwerke hinein. Wir haben es dabei mit der Enttabuisierung zu weit getrieben. Aber Natur- und Umweltschutz sind doch keine Retabuisierungen, sondern Schutz aus vernünftigen Gründen.

Worüber man nicht spricht, das ist oft das, was das Licht der Sonne scheut. So etwas gehört enttabuisiert. Da muss das Schweigen gebrochen werden, um der Menschen willen. Unter uns ist aber eine ganz andere Art von Enttabuisierung üblich geworden, die des Privaten und Intimen. Dem Schutz des Intimen dient die Scham. Wir leisten uns eine Schamlosigkeit im öffentlichen Begaffen von Sex und Gewalt, über die die islamische Welt zu Recht empört ist. Zu dem Bild aus dem Irak, auf dem eine Soldatin einen nackten Gefangenen an der Hundeleine hält, hat jemand erklärt, das sei doch bloß eine gestellte SM-Szene. Er hat nicht begriffen, was diese Entwürdigung in einer Gesellschaft, die Scham und Ehre noch kennt, bedeutet. Der Betroffene habe dieses veröffentlichten Bildes wegen seine Ehre für immer verloren, wird uns dazu aus dem Irak erklärt.

Ich möchte uns diesen Ehrbegriff nicht empfehlen, weil er zwischen Person und Geschick nicht unterscheidet, aber daran erinnern, dass es verkehrt ist, die Scham und die Rücksicht auf den Ruf, den eigenen und den der anderen, zu enttabuisieren. Jesus von Nazareth hatte die Enttabuisierung mit einer Tabuverschärfung verbunden, beides um des Menschen willen.

Der Autor ist Professor für Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

-

Zur Startseite