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Hartz IV hat das Leben von Millionen Menschen verändert. Teils zum Positiven, teils zum Negativen.

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Zehn Jahre Arbeitsmarktreform: Ein Leben von und mit Hartz IV

Eine Mutter, die ihre Kinder vor dem Stigma bewahren will, ein Leiharbeiter, der trotz 40 Stundenwoche aufs Amt angewiesen ist und ein Akademiker, der einfach keinen Job findet. Hartz IV hat das Leben vieler Menschen verändert. Drei Protokolle.

Es war die folgenreichste Sozialreform seit dem zweiten Weltkrieg. Vor Zehn Jahren wurden die Hartz-IV-Gesetze beschlossen und veränderten das Leben von Millionen. Im Tagesspiegel sprechen drei Betroffene über ihre Erfahrungen und das Leben mit Hartz IV

BIRGIT SCHNEIDER*, 44, ZWEI KINDER:

"Buch ist ein Dorf und Hartz4 ist ein Stigma – da bleibe ich lieber anonym. Vor ein paar Wochen gab es in der Schule meiner 17jährigen Tochter einen Vortrag zu Studium und Berufswahl. Da ging es auch um die Möglichkeiten des sozialen Aufstieges. Natürlich war meine Tochter empört, als sie erfuhr, dass sie als Tochter einer Hartz-IV-Empfängerin auf dem Gymnasium die große Ausnahme sein soll. Es geht um das Gefühl, eigentlich nicht dazuzugehören; dass es keine Rolle spielt, was man einzubringen hätte. Dieses Gefühl habe ich recht häufig.

Vor fünf Jahren sind wir an den Stadtrand nach Buch gezogen. Vorher lebten meine Kinder und ich in Prenzlauer Berg. Als dort die Miete die vom Jobcenter genehmigte Höhe überstieg, mussten wir umziehen. Mein Sohn ist 21 Jahre alt und vor einigen Monaten ausgezogen. Damit ist unsere Wohnung jetzt wieder zu teuer. Die fehlenden 50 Euro werde ich wohl aus eigener Tasche dazulegen.

Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe eine Ausbildung zur Mechatronikerin. Nach der Wende schulte ich mit Unterstützung des Amtes zur Kauffrau für Bürokommunikation um, arbeitete dann einige Jahre im Schichtdienst in einem Hotel an der Rezeption. Die Kinder waren schon damals auf der Welt. Irgendwann ging es nicht mehr. Ich wollte meine Kinder aufwachsen sehen und war auch gerne Mutter. Der Vater zahlt Unterhalt, verheiratet waren wir nie.

Seit es Hartz IV gibt, habe ich weitere Ausbildungen und Qualifizierungen zur Pflegeassistentin und Betreuungsassistentin gemacht. Dann bekomme ich immer mal wieder befristete Stellen, die aber nach elf Monaten auslaufen. So kann ich nie Ansprüche auf Arbeitslosengeld 1 erwerben. Vor kurzem habe ich einen „Computerführerschein“ absolviert. Ich wollte das, um zu beweisen, dass ich weiter am Ball bleibe. Seit Herbst habe ich dann 35 Bewerbungen geschrieben und eine Absage bekommen. Die restlichen Arbeitgeber antworten gar nicht erst.

Über die Beschäftigten im Jobcenter kann ich nichts Schlechtes sagen. Im Gegenteil, mein Sachbearbeiter ist sogar sehr nett und ruft manchmal an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Das Problem an Hartz IV ist auch nicht das geringe Geld – obwohl meine Tochter und ich nach Abzug aller Kosten monatlich maximal 200 Euro für Essen und Privatvergnügen zur Verfügung haben. Das Problem ist, dass man sich komplett entblößen muss beim Amt. Vor ein paar Monaten beispielsweise habe ich in einer Lotterie zehn Euro gewonnen. Kurz darauf bekam ich einen Brief vom Jobcenter: Woher die Einnahmen stammen? Das ganze System ist auf Überwachung angelegt und das spüre ich: dieses Misstrauen Arbeitslosen gegenüber.

Momentan unterstütze ich eine andere Mutter, die auch im Schichtdienst arbeitet und betreue abends ihre Kinder. 72 Stunden arbeite ich monatlich dort, dafür bekomme ich 250 Euro. Das entspricht einem Stundenlohn von 3,47 Euro. Warum ich es trotzdem mache, frage ich mich selber manchmal. Ich schätze, die Antwort hat etwas damit zu tun, dass man sich einbringen will, dass es sinnvoll ist.

So habe ich auch über die Altenpflege gedacht. In der Praxis hat es sich für mich aber so dargestellt, dass die Menschen dort nur verwahrt werden. Für die Alten hat kaum jemand Zeit. Nach zehn Monaten wurde ich einmal für zwei Wochen krank. Mein Vertrag wurde dann nicht verlängert.

Mein Problem ist mein Lebenslauf. Zu viele unterschiedliche Stationen. Ich würde eher sagen, dass ich vielseitig interessiert bin. Und außerdem habe ich zwei Kinder aufgezogen und bin trotzdem erst Anfang 40. Früher hat man mir gesagt, ich sei zu jung. Jetzt heißt es, ich sei zu alt. Die Zeit dazwischen ist mir irgendwie abhandengekommen."

* Name geändert

Der Unterbezahlte

Hartz IV hat das Leben von Millionen Menschen verändert. Teils zum Positiven, teils zum Negativen.
Hartz IV hat das Leben von Millionen Menschen verändert. Teils zum Positiven, teils zum Negativen.

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MATTHIAS GRÄBER*, 53, LEIHARBEITER:

"Wenn ich sehe, wie es vielen anderen geht, dann geht es mir gut, finde ich. Ich bin gelernter Elektriker und arbeite seit mehr als 15 Jahren als Leiharbeiter. Bisher kam ich mit meinem Geld immer einigermaßen über die Runden. Aber vor vier Jahren habe ich meine Frau kennengelernt, seitdem muss ich mein Gehalt vom Jobcenter aufstocken lassen.

Meine Frau stammt aus Liberia und arbeitete eine Zeit lang als Sekretärin in der liberianischen Botschaft. Wir haben uns in der Kirchengemeinde kennengelernt und bis zum Mai gemeinsam in meiner Einzimmerwohnung auf 34 Quadratmetern gelebt. Nun haben wir eine größere Wohnung bekommen: 49 Quadratmeter für 440 Euro Miete. Meine Frau ist 58 Jahre alt und beginnt demnächst mit Unterstützung des Jobcenters eine Ausbildung zur Altenpflegerin.

Derzeit verdiene ich sehr gut: Knapp 1300 Euro. Zusammen mit der Unterstützung des Jobcenters kommen wir so insgesamt auf etwa 1700 Euro monatlich. Es gibt aber auch Monate, in denen meine Leiharbeitsfirma nicht genug Aufträge für mich hat. Dann rutsche ich auf vielleicht noch 700 Euro, den Rest übernimmt dann das Jobcenter. Ich arbeite 40 Stunden pro Woche und habe einen durchschnittlichen Stundenlohn von knapp acht Euro, inklusive aller Zulagen.

Ich bin in Kreuzberg aufgewachsen und wurde Elektriker, weil mir mein Stiefvater den Beruf schmackhaft gemacht hat. Er war damals Meister bei Siemens und sagte mir, dass Elektriker immer gesucht werden. Also fing ich nach meinem Realschulabschluss auch bei Siemens an und blieb dort, bis ich 1987 das erste Mal vom Stellenabbau betroffen war. Da ich in der Zwischenzeit auch als Schlosser und in der Metallverarbeitung eingesetzt worden war, fand ich ein Jahr später eine Stelle als Schlosser bei einer anderen Firma. Als die 1996 ihren Firmensitz nach Bayern verlegte und alle Mitarbeiter in Berlin entließ, kam ich nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit zur Leiharbeit.

Natürlich ist mein Wunsch eine Festanstellung in einem Betrieb. Wenn ich mich aber in den letzten Jahren bei Bewerbungen umgeschaut habe, war da immer eine Leiharbeitsfirma im Spiel. Man kann sich auch initiativ bei Firmen bewerben, aber da kann man genauso gut Lotto spielen, denke ich. Also bleibt Leiharbeit. Mir ist es durchaus schon passiert, dass ich spät abends vom Entrümpeln an der polnischen Grenze nach Hause komme und einen Anruf meines Arbeitgebers auf dem Anrufbeantworter habe, dass ich mich in ein paar Stunden irgendwo zum nächsten Einsatz melden soll. Die Disponenten wissen oft gar nicht, wie lange unsere Arbeitstage mitunter sein können.

Leiharbeitsfirmen haben in der Öffentlichkeit mitunter einen schlechten Ruf. Den haben sie zurecht, denke ich. Ich kenne die Geschichten von Kollegen mit Rückenproblemen, die trotzdem als Entrümpler eingesetzt werden und dabei schwer heben müsssen. Die Grundidee von Leiharbeit halte ich als religiöser Mensch für moralisch verwerflich. Eigentlich gehört diese Branche verboten, aber natürlich habe ich keine große Hoffnung, dass das passieren wird.

Ich arbeite seit fünf Jahren für dieselbe Firma. Im Großen und Ganzen kommen wir gut miteinander aus. Manchmal muss man ihnen klarmachen, dass ich keine Maschine bin, aber an sich funktioniert alles gut. Am Monatsende schicke ich meine Abrechnung ans Jobcenter und die stocken die Summe dann auf. Mit den Sachbearbeitern im Jobcenter habe ich keine schlechten Erfahrungen gemacht. Sie behandeln mich fair und zahlen pünktlich. Natürlich bemühen sie sich nicht, mir Jobangebote zu unterbreiten, aber darum geht’s bei mir ja auch nicht. Ich habe schließlich Arbeit, verdiene nur zu schlecht dabei.

Manchmal höre ich, dass die menschliche Arbeitskraft angeblich immer teurer wird. Aus meiner Sicht stimmt das nicht. Wenn ich an meine erste Zeit als Elektriker denke, dann habe ich damals so viel verdient wie heute. Aber die Lebenshaltungskosten sind gestiegen. Für mich gilt eher das Gegenteil: Der Wert meiner Arbeitskraft wird immer geringer.

Für Menschen wie mich hat sich durch Hartz IV eher etwas verbessert: Ich bekomme eine billigere Monatskarte für die BVG und muss keine GEZ-Gebühr mehr zahlen. Es gibt sicherlich Menschen, auf die das Klischee des Hartz-IV-Empfängers zutrifft: mit Bier vor dem Fernseher. Aber das sind nicht alle. Ich bin auch Hartz-IV-Empfänger, obwohl ich jeden Tag arbeiten gehe. Mein Problem ist einfach: Ich verdiene nicht genug." *Name geändert

Der gescheiterte Akademiker

Hartz IV hat das Leben von Millionen Menschen verändert. Teils zum Positiven, teils zum Negativen.
Hartz IV hat das Leben von Millionen Menschen verändert. Teils zum Positiven, teils zum Negativen.

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OGUZ CAKIR, 30, ELEKTROINGENIEUR:

"Als mir mein Professor vor knapp drei Jahren das Abschlusszeugnis in die Hand drückte und sagte, jetzt sei ich Ingenieur und das Berufsleben kann losgehen, da musste ich kurz lachen. Richtig geglaubt habe ich ihm da schon nicht mehr. Ich habe Kommunikationstechnik und Elektronik an der Berliner TFH studiert. Das ist ein zukunftsorientierter Studiengang, haben die Professoren uns gesagt. Dass das für einen Bachelorabschluss nicht stimmt, haben sie uns nicht gesagt. Vielleicht wussten sie es auch nicht.

Das erste Mal bekam ich ein mulmiges Gefühl, als wir im fünften Semester ein Praktikum absolvieren sollten: Ich bekam nämlich keins. Vorher hatte ich als Werksstudent bei Siemens gearbeitet, wo auch mein Vater als Schlosser beschäftigt war. Ich dachte, dann könnte ich vielleicht als Praktikant dort weitermachen. Konnte ich aber nicht. Weder dort, noch irgendwo anders. Auch meine russischstämmigen Kommilitonen haben keinen Praktikumsplatz bekommen. Das hat uns sehr irritiert. Es ist nicht so, dass ich nicht auch vorher schon Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht hätte, aber als Akademiker mit einer begehrten Ausbildung hätte ich damit nicht gerechnet. Statt eines richtigen Praktikums wurde mir dann meine Zeit als Werksstudent als Praktikum angerechnet.

Teil meines Problems ist: Ich heiße nicht Müller oder Meier mit Nachnamen. Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen, habe einen türkischen und einen deutschen Pass. Im Laufe des letzten Jahres habe ich sicher rund 100 Bewerbungen geschrieben. Das Problem ist, dass ich nur einen Bachelorabschluss habe, hieß es. Auch wenn in Stellenanzeigen Menschen meiner Qualifikation gesucht werden, wollen die Arbeitgeber lieber einen Arbeitnehmer mit Diplom oder wenigstens Masterabschluss.

Ich ging davon aus, dass ich als 27-Jähriger mit meinem Abschluss Arbeit finden würde. Meine Abschlussnote ist 2,7. Ich bin kein Trottel. Für mein Studium habe ich einen Kredit über 12 000 Euro aufgenommen. Insgesamt 21 000 Euro muss ich zurückzahlen, monatlich 200 Euro. Allein deshalb wollte ich ins Berufsleben einsteigen: um meine Schulden abzubezahlen. Für einen Masterabschluss habe ich keine Zeit, ich muss Geld verdienen. Trotzdem habe ich mich eingeschrieben und wieder aufgegeben.

Im April diesen Jahres bin ich das erste Mal im Jobcenter gewesen. Ich wollte von deren Arbeitsplatzvermittlung profitieren und musste dafür Hartz IV beantragen. Streng genommen wollte ich nicht das Geld, sondern ihre Hilfe. Dort findet aber keine Jobvermittlung statt, sondern eine Kontrolle von Bewerbungsschreiben. Im April bekam ich das erste Mal Geld vom Jobcenter. Die Leistungen wurden für ein halbes Jahr bewilligt, mein Antrag für die Zeit ab Oktober ist immer noch nicht bearbeitet. Das bedeutet, dass ich seit fast drei Monaten kein Geld mehr bekommen habe. Natürlich macht die Bank mittlerweile Druck. Auch die Krankenkasse hat sich gemeldet.

Ich empfinde die Behandlung im Jobcenter als schikanös. Es kann gut sein, dass die Sachbearbeiter viel zu tun haben. Aber dann kommen die Antragssteller unter die Räder. Mittlerweile denke ich, dass mein Antrag so nachlässig behandelt wird, weil die sehen, dass ich noch zu Hause wohne und als Hochqualifizierter eigentlich ohnehin nicht zu ihrem Kundenstamm gehören sollte.

Ich muss auswandern, habe ich einmal eher im Spaß zu der Sachbearbeiterin gesagt. Ach, super, war ihre Antwort. Da würde sie gerne behilflich sein. Ich glaube, es war das Konstruktivste, was sie je zu mir gesagt hat."

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