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Politik: Zensur in Russland geht weiter: Journalisten müssen draußen bleiben

Wenige Minuten vor Andruck der liberalen Tageszeitung "Sewodnja" erhielt Chefredakteur Michail Berger in der Nacht zum Dienstag von der Verlagsleitung den Befehl, die Produktion zu stoppen. Der Verlag würde das Blatt künftig nicht mehr finanzieren.

Wenige Minuten vor Andruck der liberalen Tageszeitung "Sewodnja" erhielt Chefredakteur Michail Berger in der Nacht zum Dienstag von der Verlagsleitung den Befehl, die Produktion zu stoppen. Der Verlag würde das Blatt künftig nicht mehr finanzieren. Am Dienstag wurden alle Journalisten in einen zweimonatigen bezahlten Urlaub geschickt. Die Redakteure wollen das Blatt fortan als Online-Zeitung herausgeben.

Auch der Chefredakteur des illustrierten Nachrichtenmagazins "Itogi", Sergej Parchomenko, bekam am Dienstagmittag von der Verlagsleitung einen blauen Brief und die Auflassung, seinen Redakteuren die Kündigung nahe zu legen. Anderenfalls würden sie im Rahmen des geplanten Personalabbaus entlassen werden. Eine Beratung mit einem Juristen, wie sie mehrere Mitarbeiter forderten, verweigerte die Personalabteilung. Der Wachschutz hinderte die Belegschaft sogar daran, die Redaktionsräume zu betreten und untersagte den Redakteuren außerdem, ihre Autos auf dem hauseigenen Parkplatz abzustellen.

"Sewodnja" und das Wochenblatt "Itogi", das in Kooperation mit dem amerikanischen Nachrichtenmagazin "Newsweek" publiziert werden, werden vom Verlag "Sieben Tage" herausgegeben, einer Tochtergesellschaft von Wladimir Gussinskis MediaMost, zu der auch der Sender NTW gehört. In beiden Häusern brachte sich der Energiekonzern Gasprom mit umstrittenen Transaktionen in den Besitz der absoluten Mehrheit des Kapitals und berief Anfang April eine außerordentliche Aktionärsversammlung ein, die radikale Änderungen der Geschäftspolitik in allen zum Konzern gehörigen Medien beschloss. Unmittelbar danach focht MediaMost die Entscheidungen vor Gericht an. Der erste Verhandlungstermin ist für Ende dieser Woche anberaumt.

Der Chef des Verlages "Sieben Tage", Dmitrij Birjukow, auf den am vergangenen Freitag ein Anschlag verübt worden war, sagte in einem Interview für die Nachrichtenagentur Interfax, die Schließung beider Blätter habe nicht mit den Vorgängen um den Sender NTW zu tun. Sein Haus habe sich vielmehr entschlossen, sich von "politisierten Titeln zu trennen, die nur Verlust bringen." Medienexperten dagegen machen geltend, dass zumindest "Itogi" durch Werbeeinnahmen tiefschwarze Zahlen schreibt.

Die Vorgänge um "Sewodnja" und "Itogi" seien "die natürliche Fortsetzung der Politik der Machthaber zur Vernichtung unabhängiger Medien", hieß es in einer am Dienstag von MediaMost verbreiteten Presseerklärung. Der Konzern werde zusammen mit den Journalisten, deren Arbeitsplätze bedroht sind, "für die Rechte der Leser, Zuschauer und Hörer kämpfen. Wir werden Mittel und Wege finden, unsere Arbeit fortzusetzen, jedenfalls so lange, bis sich in Russland nicht eine offene Diktatur etabliert", heißt es in der Erklärung weiter. Auch der zu MediaMost gehörende Rundfunksender Echo Moskaus könnte nach Angaben des Senders mit ähnlichen finanziellen Tricks bald in die Hände von Gasprom fallen, wie die Nachrichtenagentur Interfax berichtete.

Der Abgesandte der EU-Kommission, Richard Wright, sprach von einer ernsten Verschlechterung der Lage der Pressefreiheit in Russland. Das Thema werde möglicherweise auch den EU-Russland-Gipfel im Mai beschäftigen. Angesichts der Übernahme von NTW durch den Mehrheitsaktionär Gasprom will sich der CNN-Gründer und US-Medienunternehmer Ted Turner möglicherweise aus den Verhandlungen über eine Übernahme von 30 Prozent an NTW zurückziehen.

Die US-Regierung äußerte unterdessen ihre Besorgnis über die Geschehnisse bei NTW. "Wir denken, dass der Sender eine sehr wichtige Informationsquelle für das russische Volk ist", sagte US-Außenamtssprecher Richard Boucher in Washington. In der Nacht zu Samstag hatte die neue Führung die Kontrolle über den Sender mit Hilfe von Elitetruppen des Innenministeriums übernommen und zahlreiche Mitarbeiter entlassen.

Die spanische Justiz kündigte am Dienstag die Entscheidung über eine mögliche Auslieferung Gussinskis an Russland an. Das Urteil sei bereits gefällt und müsse nur noch unterzeichnet werden, sagte ein Anwalt des Medienunternehmers. Gussinski befindet sich nach Zahlung einer Kaution in Spanien auf freiem Fuß. Die russischen Behörden werfen dem Kreml-kritischen Unternehmer Unterschlagung von umgerechnet rund 500 Millionen Mark vor.

Die von Gasprom ernannte neue NTW-Führung setzte am Wochenende 40 NTW-Journalisten ab. Eine Sprecherin der entlassenen Redakteure sagte, bis Montag hätten 350 Angestellte dem Sender den Rücken gekehrt, darunter 85 Prozent des journalistischen Stabes. NTW war der einzige von der Regierung unabhängige Fernsehsender, der sein Programm in ganz Russland ausstrahlte. Anfang April hatte der Hauptgläubiger Gasprom die Übernahme des hoch verschuldeten Senders beschlossen. Vor einem Moskauer Gericht soll Anfang Mai verhandelt werden, ob die Übernahme rechtens war.

Die Vereinigten Staaten äußerten sich besorgt über die Übernahme von NTW. "Er ist der einzige der drei größten Fernsehsender in Russland, die nicht unter Kontrolle der Regierung stehen", sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Richard Boucher. Er sprach von einem großen Verlust für das russische Volk, falls es nach dem Wechsel in der NTW-Führung nicht mehr über eine so große Bandbreite von Informationen und Meinungen verfügen könne.

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