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Politik: Zu viel des Guten

Der Irak braucht keine Lebensmittellieferungen, sagen Experten. Nötig sei eine Selbstverwaltung, damit er sich aus eigener Kraft helfen kann

DER IRAK ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN

Der Reflex funktioniert auch diesmal: Nach einem Krieg, der Elend und Leid über ein Land bringt, muss den Überlebenden geholfen werden. Das galt für Afghanistan, und es gilt auch für den Irak. Nach dem Ende der Kampfhandlungen wird nun über den Wiederaufbau des Landes diskutiert, im UN-Sicherheitsrat ebenso wie in den Planungsstäben der Hilfsorganisationen. Selbst Länder, die gegen den Krieg waren, wollen sich an dem großen Aufbauprojekt beteiligen. Doch was genau benötigen die Iraker? Was bedeutet Wiederaufbau in einem Land, das nicht wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder wie Afghanistan nach mehr als 20 Jahren Bürgerkrieg tatsächlich in Trümmern liegt? Wirklich zerstört jedenfalls wurde im Irak-Krieg wenig.

Der Veteran der Nothilfe und Gründer des Notärztekomitees Cap Anamur, Rupert Neudeck, äußert nun als einer der ersten Experten Zweifel am „humanitären Reflex“ im Westen, wie er es nennt. Der Irak sei nicht Somalia oder Afghanistan, „hier können wir unsere pazifistischen Gefühle nicht durch ein Übermaß an humanitärer Hilfe abarbeiten“, sagt Neudeck im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Beim Irak handle es sich um ein hoch entwickeltes Land mit großen Potenzialen. „Deshalb ist es unsinnig, wenn das Ernährungsprogramm der UN jetzt große Mengen Lebensmittel von Australien oder Thailand in den Irak transportieren lässt“, erläutert Neudeck. Die Kurden im Norden seien durchaus in der Lage, auch den Süden des Irak zu versorgen. „Das würde der Landwirtschaft der Kurden einen wahren Boom bescheren.“

Kurzfristig, räumt Neudeck ein, gebe es Versorgungslücken, die Hilfe von außen erforderlich machten – so fehlten derzeit vor allem Medikamente, medizinisches Gerät für die ausgeplünderten Kliniken und in einigen Städten auch Lebensmittel, weil deren Verteilung bisher staatlich organisiert wurde. Aus dem südlichen Basra, wo seit der Plünderung von Wasserwerken sauberes Trinkwasser knapp ist, werden zudem Cholera-Fälle gemeldet. Auch hier müsse sofort etwas geschehen. „Wenn schnell eine Übergangsverwaltung gebildet wird, können die Iraker die Dinge aber bald wieder selbst in die Hand nehmen.“

Neudeck steht mit seiner Meinung nicht allein, andere scheuen sich jedoch, sich offen dazu zu bekennen. Offiziell lautet bei den Organisationen, die auf Spenden angewiesen sind, die Devise: Im Irak muss eine humanitäre Katastrophe verhindert werden. „Viele Gruppen haben sich schon vor dem Krieg auf eine solche Katastrophe vorbereitet und ihre Lager in den Nachbarländern des Irak mit Hilfsgütern gefüllt. Nun sollen die auch zum Einsatz kommen“, sagt ein Entwicklungsexperte, der lieber ungenannt bleiben möchte. In Erwartung späterer Spenden wurde vieles auf Kredit gekauft. „Wenn das Geld nun ausbleibt, ist dies für die Organisationen natürlich schwierig“, sagt der Fachmann. Auch er traut den Irakern zu, sich selbst zu helfen. Im Vergleich zu anderen Ländern der Region stehe der Irak auch nach zwölf Sanktionsjahren gut da, erläutert er. Die Sanktionen hätten das Land zwar zurückgeworfen: So habe sich die medizinische Versorgung verschlechtert, viele Schulen seien in schlechtem Zustand, die Einschulungsraten in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Der Ausbildungsstand sei aber nach wie vor hoch. An Ingenieuren oder Ärzten etwa fehle es nicht. Die Infrastruktur gelte als vorbildlich. „Und wenn die Sanktionen der UN aufgehoben werden, können auch wieder Ersatzteile für Industrie und Landwirtschaft gekauft werden“, sagt der Experte.

Als Land mit reichen Ölvorkommen sollte der Irak in der Lage sein, die notwendigen Modernisierungen – auch in der Ölindustrie selbst – finanzieren zu können. Doch so einfach ist die Sache nicht. Nach Angaben des Centers for Strategic and International Studies (CSIS) hat das Land Auslandsschulden von rund 383 Milliarden Dollar, die aus den Öleinnahmen bedient werden müssen. Nachhilfe dürfte der Irak zudem beim Aufbau demokratischer Institutionen benötigen. Nach Jahrzehnten der Diktatur sind Justiz, Polizei und Kommunalverwaltung dringend reformbedürftig. Nicht zuletzt Deutschland könnte hier ein guter Ratgeber sein.

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