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Politik: Zuckererbsen für jedermann

Von Ursula Weidenfeld

Die gute Nachricht ist, dass die Wirtschaft schneller wächst als gedacht. Das hat damit zu tun, dass die Weltwirtschaft prima läuft. Damit, dass in diesem Jahr ziemlich viele Feiertage auf Wochenenden fallen – und deshalb mehr geschafft wird. Damit, dass Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften sich mit Unternehmen darauf geeinigt haben, länger zu arbeiten oder auf Lohn zu verzichten. Und damit, dass die schon geltenden und die beschlossenen Sozialreformen den wirtschaftlichen Umschwung begünstigen. Die Reformen tun nicht nur weh – sie fangen an zu wirken.

Die schlechte Nachricht ist: Es geht zu langsam. Bis das Wachstum so stark und so stabil ist, dass sich die Beschäftigungssituation für die Arbeitslosen oder die schlecht Ausgebildeten spürbar ändert, wird es nach Ansicht der Ökonomen der Industrieländervereinigung OECD noch lange dauern. Erst für das kommende Jahr erwarten die Experten, dass bemerkbar viele neue Arbeitsplätze entstehen. Und ob die jetzt in betrieblichen Bündnissen gesicherten Arbeitsplätze tatsächlich sicher sind, wird sich noch später zeigen: im nächsten Abschwung.

Aber nur neue Arbeitsplätze sind neue Chancen für die Betroffenen der Sozialreformen, für die Arbeitslosen, die Geringverdiener, die Jugendlichen, die auf einen Ausbildungsplatz warten. Erst diese Chancen könnten dafür sorgen, dass sich die Menschen zuerst mit Hartz I bis IV und dann möglicherweise sogar mit der Bundesregierung versöhnen. Wenn der Bruch vom fürsorglichen Wohlfahrtsstaat zum fordernden Sozialstaat in neuen Perspektiven messbar wird, wird die Zustimmung wachsen. Vorher nicht.

Die Zwischenzeit ist eine gefährliche Zeit. Es ist eine Zeit des Verdrusses und der Versuchungen. Für die Wähler in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Saarland und Sachsen liegt kaum etwas näher, als den Reformpolitikern ihren Ärger auf dem Wahlzettel mitzuteilen – unabhängig davon, ob eine andere Bundesregierung anders gehandelt hätte. Manche Arbeitslosengeld-II-Empfänger fragen sich, ob sie ihr Geld schnell noch ausgeben sollen, damit es nicht angerechnet werden kann. Und die Politiker, die den Zorn der Betroffenen aushalten müssen, fangen an öffentlich infrage zu stellen, was sie gemeinsam beschlossen haben: Vielleicht zieht man aus den Wahlen im Herbst politischen Nutzen, wenn man bei der ersten Auszahlung des Arbeitslosengeld II der öffentlichen Debatte nachgibt? Oder die Kindersparbücher doch schont? Wäre vielleicht ein neuer Kopf an der Spitze eines Ministeriums das richtige Signal? Oder gar das Verschieben der härtesten, der Hartz-IV-Reform?

Niemand wird annehmen, dass der Ärger in den nächsten Monaten verfliegt, im Gegenteil. Wenn im Spätherbst die Arbeitslosenzahlen wieder deutlich nach oben gehen, wird es noch härter werden, den Reformkurs zu verteidigen. Niemand aber wird so naiv sein zu glauben, dass das Vortäuschen politischer Bewegung die richtige Überbrückungshilfe ist. Wenn schon die OECD und der Internationale Währungsfonds mahnen, dass man die Bürger seines Landes für einen ernsten Reformkurs auch gewinnen muss, dann zeigt das vor allem eines: Nicht nur die Bundesregierung wird sich anstrengen müssen, die nächsten Monate einigermaßen heil zu überstehen. Auch das Land.

Das Vaterland hat zwar wenig Geduld. „Zuckererbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen. Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen“ hat Heinrich Heine deshalb vorgeschlagen. Doch im Gegensatz zu Heines „Eiapopeia vom Himmel“, das dem Volk in harten Zeiten in Aussicht gestellt werde, ist der Aufschwung in Deutschland jetzt schon da. Deshalb lohnt es sich auch, in die Zwischenzeit zu investieren, bis er spürbar wird. Zum Beispiel, indem man auch den Betroffenen gegenüber endlich zugibt, wie tief greifend die Zumutungen sind, und um Zustimmung kämpft. Man könnte ja lernen, dazu zu stehen: Immerhin ist ein ziemlich unbewegliches Land doch in Bewegung gekommen.

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