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Willy Brandt, Altbundeskanzler und SPD-Vorsitzender, aufgenommen am 02.10.1979 bei den 34. Deutsch-Französischen Konsultationen in Bonn.

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Zum 100. Geburtstag: Was die Größe von Willy Brandt ausmacht

Manche Politiker werden geachtet, andere gefürchtet. Willy Brandt aber ist von vielen geliebt worden. Warum? Weil er sich nie über andere erhob und der Welt das Bild eines anderen Deutschland zeigte. Eine Hommage.

Manche sagen, es bestehe die Gefahr, dass wir aus Willy Brandt einen Mythos machen. Ich gestehe, dass ich dabei gerne mitwirke. Wir haben in dieser Zeit, wenn es um positive Mythen geht, wenig zu bieten. Und deshalb ist eine leichte Erhöhung des Lebens und der Taten von großen Persönlichkeiten legitim.

Es war ein Jahr vor dem Rücktritt von Willy Brandt vom Parteivorsitz der SPD, da gab es eine Einladung, 1986 nach Singapur. Da war ich als ehemaliger Bildungsminister gefragt. Wir wollten südostasiatischen Unternehmen die Vorzüge der deutschen Berufsausbildung darstellen, das duale System, was sie sehr interessierte. Bevor ich mich auf den Weg machte, kam eine zweite Einladung von einem Botschafter namens Boudré-Gröger. Egon Bahr weiß sich gut an ihn zu erinnern. Er war Botschafter in Vietnam und er sagte: „Wenn du auf dem Weg in die Region bist, besuch doch einfach Hanoi.“

Willy Brandt als Moderator am anderen Ende der Welt

Vietnam war damals komplett abgeschlossen, Terra incognita für uns. Die Deutsche Botschaft residierte in zwei Zimmern eines Hotels, während prächtige Villen der DDR-Vertretung zur Verfügung standen. Also fuhr ich hin. Es waren aufregende Tage. Darüber zu berichten ist hier nicht der Ort. Am vierten Tag, unten in Saigon, Ho Chi Minh City, wurde ich morgens um halb acht – ungewöhnlich für mein Leben – abgeholt mit einer Limousine, vermutlich russischer Herkunft und mit verhängten Gardinen. Die fuhren mich eine dreiviertel Stunde durch Vororte, und ich landete in einer Villa, empfangen von einem jungen, kurzärmligen Mittdreißiger. Der sagte: „Ich muss mit Ihnen reden.“

Ich hatte keine Ahnung, wer es war. Erst im Laufe des Gesprächs stellte ich fest, es war der von den Vietnamesen gegen die Roten Khmer in Kambodscha eingesetzte Ministerpräsident Hun Sen, der bis heute im Amt ist. Er erzählte mir die Situation seines Landes, abhängig von China, von Russland, und sagte zum Schluss: „Ich bitte Sie, nach Hause zu fahren und dafür zu sorgen, dass diese Region langfristig einen Moderator bekommt.“ Klar war, Vietnam und Kambodscha wollten aus der politischen Isolation heraus.

Ich hab ihn etwas fassungslos angeguckt und gefragt: „An wen denken Sie?“ Und er sagte: „Wenn es um einen Moderator für die Region hier geht, darf es kein Franzose sein – erster Indochina-Krieg. Und es darf kein Amerikaner sein – zweiter Indochina-Krieg. Ich denke, präzise gesagt, an Willy Brandt.“ Da sitzt man damals buchstäblich am Ende der Welt, und es kommt ein junger Mann und sagt: „Ich möchte Willy Brandt!“ Und fügt noch hinzu: „Wenn es gar nicht anders geht, wäre ich auch bereit, Bruno Kreisky zu akzeptieren."

Ich war fassungslos, weil zwei der großen Idole meines Lebens genannt wurden. Und mir kam erneut ins Bewusstsein, welche Rolle Willy Brandt eben nicht nur in unserem Land, sondern auch weit darüber hinaus gespielt hat. Was hat diesen Mann zu dem gemacht, was er wurde? Zum Politiker von Weltrang? Zu – ich würde heute sagen – einer Ausnahmeerscheinung? Zu einer Persönlichkeit, die die Weichen des Friedens in der Nachkriegszeit wie kein anderer neu justiert hat. Vieles erklärt sich aus der Geschichte, aus der frühen zumal.

Früh lehnt sich der Sozialdemokrat auf und engagiert sich

Willy Brandt wächst in Lübeck als uneheliches Kind unter außergewöhnlich kargen Verhältnissen auf. Er erlebt in seiner Jugend die Sozialdistanz zwischen Arbeiterschaft und einem wohlig ungerührten, zumeist unpolitischen Bürgertum. Er spürt sehr früh die Anfälligkeiten der ersten Deutschen Republik, ihre Brüchigkeit. Er leidet unter dem mangelnden Willen und der Entschlossenheit der Linken, auch seiner eigenen späteren Partei, gegenüber dem schleichenden Ungeist des Nationalsozialismus.

Er lehnt sich auf. Er engagiert sich politisch und ist mit 18 Jahren, als heute einer gerade Juso wird, eine ausgewachsene politische Persönlichkeit. Ein Politiker, dem die Überwindung sozialer Ausgrenzung, dem das Mitempfinden mit den Schwachen durch eigenes Erfahren ans Herz gewachsen ist. Ein Politiker zugleich, für den Republik und Demokratie das einzig denkbare System zum Schutz der Würde von Menschen sind, zu ihrer Entfaltung. „Ohne Solidarität“, sagt Willy Brandt später, „gibt es für die Schwachen keine Freiheit.“ Deshalb müssen die großen gesellschaftlichen Lebensbereiche durch die Grundwerte der Demokratie und der Gerechtigkeit komplett durchdrungen werden. Für seine Überzeugung verfolgt, geht Willy Brandt ins Exil. Man sagt, er ging in die Illegalität. Ich bestreite das politisch. Illegal ist nur die Diktatur, nicht der Widerstand gegen dieselbe.

Wir können heute vermutlich kaum ermessen, wie viel Mut, Kraft und Überwindung von Ängsten es erfordert, mit 20 Jahren ins Unbekannte, ins Ausland zu gehen. Gleichwohl hat Willy Brandt diesen Mut besessen. Er hat seine Kraft eingesetzt in den Jahren außerhalb Deutschlands, um ein anderes und besseres Bild zumindest eines Teils der deutschen Nation zu entwerfen. Es hat lange, und ich finde, zu lange gedauert, bis in der zweiten Republik, der Bonner Republik, endlich begriffen wurde, welchen Beitrag Menschen wie Brandt und viele andere in Widerstand und Exil geleistet haben. Ohne sie wäre es um die moralische Akzeptanz der Deutschen in der Welt bis heute sehr viel schlechter bestellt. Wir schulden ihnen Dank. Sie sind Ehrenretter der Nation.

Anfangs musste Brandt mit vielen Herabsetzungen kämpfen

Willy Brandt legt wenige Stunden nach seiner Wiederwahl am 14.12.1972 im Deutschen Bundestag in Bonn den Amtseid ab.
Willy Brandt legt wenige Stunden nach seiner Wiederwahl am 14.12.1972 im Deutschen Bundestag in Bonn den Amtseid ab.

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Fraglos hat Willy Brandt eine sehr nachhaltige Prägung in Skandinavien, insbesondere in Norwegen erfahren, in Norwegen, das ihm zur neuen Heimat wurde. Hier fand er das, was er aus Deutschland nicht kannte: eine zivile Liberalität, vielleicht umgekehrt auch eine liberale Zivilität, die das Gegenteil von falsch verstandenem Preußentum, aber auch das Gegenteil von manch verquasten sozialistischen Ordnungsvorstellungen ist. Hier erfuhr Willy Brandt, was ganz praktisch, nachbarlich sozusagen, originäre Sozialität bedeutet. Hier lernt er Wege zu einer pragmatischen Reformpolitik, und hier gründen seine Überzeugungen von moderner Sozialdemokratie. Die Aufnahme der nordisch zivilen Lebensart, das Erlebnis einer gänzlich undogmatischen Politik, auch das unverkrampfte Verhältnis der Skandinavier zu ihrer Heimat, ganz ohne Nationalismus. Das hat Brandt geformt und geprägt. Vom Skandinavischen könnten wir in Deutschland übrigens auch heute noch eine Menge lernen.

Der Aufstieg Brandts zum Staatsmann vollzieht sich in Berlin, wo er als Nachfolger von Otto Suhr und Ernst Reuter Bürgermeister wird. In dieser Zeit, schon mit Egon Bahr an der Seite, ereignen sich drei schwere Krisen. Der Ungarn-Aufstand, der den Deutschen, den Berlinern zumal, die Macht des Ostimperiums vor Augen führt und zu antisowjetischen Auseinandersetzungen führt. Das Ultimatum Chruschtschows, mit dem der freie Zugang nach Berlin eingeengt oder aufgehoben zu werden droht, und der Mauerbau, der die staatliche Einheit der Deutschen in weite Ferne rückt. Brandt hält die Berliner zusammen. Er verhindert Ausschreitungen. Er organisiert den Widerstand der Westalliierten, was nicht leicht war, auch bei Kennedy damals nicht. Seine Zusicherung „Berlin bleibt frei“ wird weltweit gehört. Der Wille zur Selbstbestimmung der Berliner und der Deutschen setzt politische Maßstäbe.

Sein Weg zum Kanzleramt ist steinig und hart

Während und auch infolge dieser Berliner Krisen wird Brandt und Egon Bahr bewusst: Mit Pathos, mit markigen Sprüchen, mit Kraftmeierei aller Art, mit Status-quo-Politik werden die monströse Mauer, werden die verblockte und dogmatisch verengte Welt und der kalte Krieg nicht zu überwinden sein. Und wird das Los der Menschen in der geteilten Stadt, im geteilten Land und auf dem geteilten Kontinent sich nicht ändern. Und so wächst im Angesicht der Mauer buchstäblich die bahnbrechende Idee vom Wandel durch Annäherung. Eine Idee, die umstritten ist, befehdet und bekämpft wird, weil erstmals ausgesprochen wird, dass es keine Vereinigung der Deutschen ohne Entspannung geben kann, ja, dass Entspannung Vorbedingung für Wiedervereinigung zu sein habe. Diese Idee ist zugleich bewegend, mitreißend für alle, die ahnen, dass hier Grundlagen für eine neue Ära der Verständigung und des Friedens in Europa geschaffen werden. Es war ein Sieg der Brandt’schen, wie auch der Bahr’schen Vernunft über den damaligen Stumpfsinn von Drohgebärden und Abgrenzungen, eine, wie ich glaube, der größten Taten des Jahrhunderts in unserem Land.

Ich bin mir heute sicherer denn je, dass die Wiedervereinigung, die wir Helmut Kohl in keiner Weise streitig machen wollen, so, wie sie kam, nicht zustande gekommen wäre ohne die Vorarbeit von Willy Brandt und Egon Bahr. Die überragende Rolle in Berlin und seine international gewachsene Reputation führen ihn schnell ins Zentrum der deutschen Politik insgesamt. Er wird Kanzlerkandidat. Er unterliegt zweimal, Adenauer und Erhard, wird dann Außenminister der großen Koalition und schafft 1969 den Durchbruch zur Kanzlerschaft. Der Weg dahin ist gepflastert mit unvorstellbaren Demütigungen und Verunglimpfungen. Konrad Adenauer spricht auf Versammlungen von „dem Herrn Frahm“. Strauß fragt öffentlich, was Brandt denn wohl zwölf Jahre da draußen getan habe und fügt unfreiwillig entlarvend hinzu: „Wir wissen, was wir zwölf Jahre hier drin getan haben.“

Die uneheliche Herkunft von Willy Brandt wird perfide ausgeschlachtet, die Entspannungspolitik zur Handlangerei des Ostens gemacht, zum Verrat deutscher Interessen, und das Exil Brandts wird zum Kampf gegen das eigene Land hochstilisiert. Brandt hat unter diesen unwürdigen Herabsetzungen gelitten. Auch wir haben in der Frühzeit miterlebt, was sich da in Seele und Herz abgespielt hat. Er hat gelitten unter diesen Anwürfen, zumal zur gleichen Zeit ehemalige Nationalsozialisten wie Globke, Filbinger, Oberländer und andere hohe Ämter und Mandate innehaben konnten. Dies hat Brandt mit seiner Grundeinstellung für Demokratie und Würde des Menschen zutiefst verletzt, und er hat diese Verletzungen bis zum Ende seines Lebens mit sich getragen. Ich glaube, dies ist eines der unrühmlichsten Kapitel der Nachkriegsgeschichte, und wenn ich daran denke, bereitet mir das bis heute eine Gänsehaut.

Das Motto seiner Regierungszeit: „Mehr Demokratie wagen“

Allen Anfechtungen zum Trotz setzt Brandt seine Entspannungspolitik fort, denn, so sagt er, wer es mit den Menschenrechten und dem Frieden ernst nimmt und diese nicht nur zur Propaganda im Mund führt, der kann nicht gegen Entspannung sein. Es kommt in kurzer Folge zum Gewaltverzichtsabkommen, zum Moskauer Vertrag, zum Warschauer Vertrag. Der Kniefall Willy Brandts in Warschau wird das bleibende bewegendste Bild von Demut und Aussöhnung in der Geschichte werden. Es kommt zum Viermächteabkommen über Berlin, zum Grundlagenvertrag mit der DDR, und das alles führt spurenhaft auch hin zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Für mich sind diese Jahre, die ich miterlebt habe als junger Abgeordneter, Sternstunden der deutschen und europäischen Politik. Brandt und Bahr haben den eigentlichen Durchbruch zu Frieden, Verständigung und Versöhnung auf dem Kontinent geschaffen.

Auch in der Innenpolitik setzt Brandt Schwerpunkte, die mit Verkrustungen der Nachkriegsperiode Schluss machen. „Mehr Demokratie wagen“: mehr Mitbestimmung, mehr Beteiligung an jeglicher Willensbildung, nicht nur in der Politik, auch in der Wirtschaft, der Bildung, der Universitäten, der Verbände. Öffnung des Bildungswesens für alle Unterprivilegierten, die sonst keine Chance hätten. Bafög einführen, damit finanzielle Absicherung des Bildungsaufstiegs möglich wird. Wenn ich bedenke, wie sehr wir dafür gekämpft haben, wie weit wir gekommen sind und wie weit das große Ziel heute dennoch entfernt ist, weiß ich, es lohnt, an diese Periode zu erinnern. Dazu eine Reihe von Entscheidungen zur Absicherung der arbeitenden Bevölkerung gegen die Risiken der industriellen Arbeitswelt. Und – wenn man von dem wirklich großen Fehler des Radikalenerlasses absieht – eine Fülle von Restrukturierungen eines überkommenen Rechtssystems.

Später wurde er zum Hoffnungsträger und Visionär

Das war Wasser auf die Mühlen aller, die wie wir vom Aufbruchsgeist der 60er Jahre getragen wurden. Endlich Bewegung, Lüftung des Muffs, nicht nur unter den Talaren der Professoren. Brandt gewinnt mit seinen Reformideen und der beharrlichen Friedenspolitik die Köpfe und die Herzen all jener, die schon lange einen Aufbruch aus der Erstarrung der damaligen Republik erhoffen. Er hat Deutschland erstmals in die Moderne geführt.

Auch nach seiner Kanzlerschaft bleibt Brandt ein Politiker von Weltrang. 1977 übernimmt er den Vorsitz der Nordsüdkommission und legt zwei Berichte vor, „Das Überleben sichern“ und „Hilfe in der Weltkrise“. Sie gipfeln in dem Vorschlag zur Schaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Auch wenn diese Konzepte, wie leider zu befürchten war, nicht den ganz großen Durchbruch brachten – sie lenkten die Augen der Weltöffentlichkeit auf die schamlose Ausbeutung der Schwachen in der Dritten Welt durch die Reichen der Ersten Welt. Die moralische Frage: „Wie kann es angehen, dass ihr bis heute, ihr Reichen auf Gottes Erdboden, euch immer bedient an den Schwachen?“ wird ein Thema für die Zukunft bleiben.

Brandt blieb mit der Geschichte der SPD verbunden

Seiner Partei hat Willy Brandt 23 Jahre vorgestanden und weitere fünf Jahre als Ehrenvorsitzender gedient. Sie waren einander verbunden, wie selten etwas in der Geschichte der Sozialdemokratie verbunden war. Sie hat ihm, wie er ihr unendlich viel zu verdanken. Und weil sie ein substanzieller Teil seines Lebens war, weil sie ihm am Herzen lag, hat er ihr manches, sparsam, wie es seine Art war, ins Stammbuch geschrieben. Zum Beispiel: „Eine Partei der Reformen muss notwendig zur eigenen Reform fähig sein. Sie muss sich als Volkspartei ständig erneuern. Sie findet ihre Hauptverankerung natürlich bei den Arbeitnehmern, aber auch Freiberufler, Landwirte, Unternehmer, Softwareingenieure, Kulturschaffende müssen den Zutritt zu dieser Partei geöffnet bekommen.“ Oder: „Sie braucht die Unbequemen, die SPD, die Außenseiter, die bunten Vögel, die Querdenker und die Undogmatischen aller Art.“ Und dann sagte er einen Satz, über den nachzudenken sich heute besonders lohnt: „Die Mehrheit kann nie finden, wer nicht in die Mitte reicht.“

Was macht die Größe dieses Mannes aus? Woher rührt seine Aura? Oder einfacher gesagt: Warum haben wir Onkel Herbert, Herbert Wehner, respektiert und in der Regel gefürchtet? Warum achten wir Helmut Schmidt hoch, aber warum haben wir Willy Brandt verehrt, gelegentlich sogar geliebt? Er war und blieb über alle Perioden, so wie ich ihn erlebt habe, auf angenehmste Art menschlich. Er war bescheiden, er war sensibel, er war verletzlich. Er war offen für Sorgen und Nöte. Er war zugeneigt, aber dabei Zuneigung nie zu Populismus nutzend. Von anderen hat er nicht mehr erwartet, als er selbst zu geben bereit und imstande war.

Ein Politiker ohne staatsmännische Aufgeblasenheit

Einer, dem sein Sein immer mehr wert war als der Schein. Er kam ohne Pomp aus, ohne staatsmännische Aufgeblasenheit, die Hohlheit und der bloße Pragmatismus vieler Politiker waren ihm ein Graus. Statt Befehle zu erteilen, leitete Willy Brandt an. Er war ein begnadeter Motivator, dem Imperatives fremd blieb und der Intrigantentum verachtete. Er lud zum Mittun und zum Mitdenken ein, nicht zur Gefolgschaft. Kluge Köpfe wurden ins Boot geholt und nicht ausgebootet. Bis auf kurze Phasen in seiner Jugend blieb er undogmatisch. Das heißt, weitgesteckten Zielen verpflichtet, aber nie die Realität missachtend, vor allem nie die Realität einem Programmkorsett oder einer ideologischen Überzeugung unterordnend.

Was letztlich seine Faszination ausmachte? Er war ein Hoffender. Vielleicht sollte man sagen, ein Visionär, dem die Welt ebenso wenig fremd, wie er zu verändern sie unbeirrt gewillt war. Er vermochte uns eine Zukunft zu beschreiben, in der alle Menschen, gleich welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe, welcher Herkunft, welcher Glaubensüberzeugung, zwar nicht paradiesisch, aber doch mit Anstand solidarisch miteinander verbunden sein können. Eine Welt, in der die Würde keines Menschen missachtet wird, in der alle Zugang zu Bildung und zum kulturellen Erbe der Geschichte haben, in der Krieg, Hass, Gewalt, Ausbeutung geächtet sind, in der Staaten Regeln setzen, jedoch ohne zu bevormunden und privates Engagement und Kreativität zu verhindern, in der Politik gestaltet, aber nicht bloß Herrschaft unter sich verwaltet.

Einer solchen Welt ein Stück näherzukommen war seine Hoffnung, wie Oskar Wilde – das Zitat kannte Willy Brandt – es auf den Punkt brachte: „Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia gar nicht verzeichnet ist, ist es nicht wert, einen Blick darauf zu werfen, denn es fehlt das einzige Land, nach dem die Menschen sich sehnen.“

Indem Willy Brandt uns immer wieder die Möglichkeit einer solchen Welt näherbrachte, weckte er Hoffnungen, nährte er Sehnsüchte, riss er mit, gewann er Menschen, weit über den Rand der SPD hinaus. Brandt wusste, die Mühen eines langen Weges nimmt nur auf sich, wer Wegmarken und ferne Ziele vor sich sieht, Ziele, die jede Anstrengung lohnen, sogar die Anstrengung eines Sisyphos. Weil Willy Brandt diesen langen Weg selbst beschritten hat, weil er somit glaubhaft, authentisch war, sind wir ihm auf diesem langen Weg über lange Strecken gefolgt, und wir haben es überzeugt getan.

Björn Engholm war von 1991 bis 1993 SPD-Vorsitzender. Zuvor bekleidete er mehrere Ministerämter und war fünf Jahre lang Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Engholm hat im November seinen 74. Geburtstag gefeiert.

Björn Engholm

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