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Verantwortlich für Berlin. Seit 1957 (bis 1966) ist Willy Brandt Regierender Bürgermeister der Stadt. Das Foto zeigt ihn im Jahr 1960, mit der unvermeidlichen Zigarette in der Hand.

©  Archiv der sozialen Demokratie, Bonn

Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt: Wie Willy Brandts Politik Berlin prägte

Kein Ort war geeigneter als Berlin, um die Politik der kleinen Schritte zu entwickeln. Fast 20 Jahre verbrachte Willy Brandt in Berlin, zehn davon als Regierender Bürgermeister. Ein Abriss der Spuren, die der Ausnahmepolitiker in der Stadt hinterließ.

Das ist die Kehrseite, wenn einer zu einer Jahrhundertgestalt wird: Die Schritte, die dorthin führen, verblassen und werden zu bloßen Etappen einer Biografie. Willy Brandts Ruhm verdankt sich der Ostpolitik, der Kanzlerschaft der sozial-liberalen Koalition 1969 und einem internationalen Rang, wie ihn kaum ein anderer Deutscher gewonnen hat. Und seine Berliner Jahre – immerhin bald zwanzig, zehn davon als Regierender Bürgermeister? Natürlich sind sie „unentbehrliche Jahre“ – wie sie Egon Bahr einmal in dieser Zeitung genannt hat –, die den Staatsmann reifen ließen. Aber was macht sie aus? Was war Berlin für Brandt?

Zuerst war die Stadt der Ort der Rückkehr und des neuen Anfangs. Als Brandt im kalten Januar 1947 nach Berlin kommt, steht er zwischen Emigration – noch gehört er, wie er sich erinnert, zum „norwegischen Milieu“ in der besetzten Stadt – und Wiederaufnahme seiner deutschen Existenz. Es sind die Turbulenzen, die Berlin in diesen Jahren bewegen, die ihn in die Stadt und in die Politik buchstäblich hineinziehen – der Kampf um die Stadt im beginnenden kalten Krieg, die Selbstbehauptung der SPD gegen die Kommunisten, die Blockade. In der Nähe Ernst Reuters nimmt er aktiv daran Anteil und wird selbst zur politischen Figur.

Übrigens ist dieser Anfang nicht seine erste Begegnung mit Berlin. 1936 hat er illegal, als norwegischer Student Gunnar Gaasland, ein paar Monate in der Stadt gelebt. Sie hat bei ihm offenbar einen so günstigen Eindruck hinterlassen, dass er in seinem Erinnerungsbuch „Links und Frei“ den Abschnitt über den Beginn seiner Arbeit mit „Berlin II“ überschreibt. Unter dem Eindruck der Blockade – das erste Kind des Ehepaars Brandt kommt bei Kerzenlicht zur Welt – muss ein Gefühl der Nähe zur Stadt und ihren Bewohnern entstanden sein. Ihre Stimmung habe ihn „mehr als einmal an die Gesinnung im norwegischen Widerstand“ erinnert.

Berlin ist mithin der Geburtsort des Politikers Brandt – und der Politik, mit der er zu einer überragenden Gestalt der jüngsten Geschichte wird. Dabei muss Brandt sich zunächst einem mit Haken und Ösen ausgefochtenen Kampf um die Führung der Berliner SPD stellen. Aber die Auseinandersetzung mit Franz Neumann, ihrem damaligen Vorsitzenden, einem typischen alten Parteisoldaten, ist mehr als ein Beispiel erbitterter Parteirivalität. Erst Brandts Sieg über ihn macht die SPD zu der Partei, die Berlin durch die anstehenden Probleme steuern kann. Mit Brandts Wahl zum Regierenden Bürgermeister 1957 erreicht die Stadt die Höhe der Herausforderungen, die die Geschichte für sie bereithält.

Denn Brandt verbindet das Drängen auf Bewegung in der Ost- und Deutschlandpolitik mit der Anlehnung der Stadt an die Bundesrepublik. Da steht er durchaus gegen wichtige Teile auch der eigenen Partei und ihrer Neigung, in Berlin eine eigenständige, „fortschrittlichere“ Politik zu machen. Gelegentlich schießt sein Berlin-Engagement auch über das Ziel hinaus – so, im unruhigen Jahr 1956, mit der Forderung nach dem sofortigen Umzug von Bonn nach Berlin. Zu Buche schlägt das Jahr für Brandt allerdings mit einer Mutprobe, die ihn zum Helden der öffentlichen Meinung in Berlin macht: Er verhindert, dass der Protest der Berliner gegen die Niederschlagung der ungarischen Revolution eskaliert und aus dem Ruder läuft.

Der Auftritt des Paares ist Legende

Sein Aufstieg verdankt sich der Fähigkeit, ein hohes Maß an konzeptioneller Entschiedenheit auch im politischen Alltag durchzuhalten. Dabei findet er auch den richtigen Ton, die Berliner in ihrer Lage anzusprechen. Nicht zuletzt tragen er und seine Frau Rut ein neues politisch-gesellschaftliches Fluidum in die Stadt. Der Auftritt des Paares beim Presseball 1955 – er im Smoking, sie im weißen Seidenkleid in der H-Linie, damals der letzte Schrei – wird Legende. Es zeigt sich, dass Brandt über die Gabe verfügt, populär zu werden. In der umzingelten Stadt wird er zur Verkörperung politischer Führung. Sie ist, seit Ernst Reuter, eine unabdingbare Komponente der Sicherung des Überlebens der Stadt

Dass im Amtstitel Regierender Bürgermeister auch die Bürgermeister-Rolle steckt, realisiert der politische Stratege durchaus. Mit Leidenschaft? Mit stillem Seufzen? „Ich machte die Arbeit im Rathaus mit Freude“, schreibt er Mitte der siebziger Jahre, fügte allerdings hinzu, dass sie ihm „nicht wenig“ abverlangte. So eröffnet der Politiker, der mit dem amerikanischen Präsidenten konferiert und weltweites Ansehen genießt, auch die grüne Woche, legt den Grundstein für die Akademie der Künste und tauft eine Boeing auf den Namen „Berlin“. Selbst als Kanzlerkandidat im Wahlkampf 1961 ist er am Vormittag im Schöneberger Rathaus.

Aber Brandt steht eben auch in der wichtigen Phase an der Spitze der Stadt, in der Berlin sein Nachkriegsgesicht erhält. Neue Erkennungszeichen entstehen – die Philharmonie, die Deutsche Oper, aber auch die Stadtautobahn. Die Berlin-Hilfe wird – nach dem Mauerbau – in ein neues Format gebracht. Das wirtschaftspolitische Junggenie Karl Schiller und der Kulturpolitiker Adolf Arndt ziehen in den Senat ein. Der Ausbau Berlins zur Stätte von Kultur und Wissenschaft wird zumindest Programm. Zugleich ist es täglich notwendig – so Brandt –, „sich um die Abwehr akuter und schleichender Gefahren, die Vertretung Berliner Interessen in Bonn und gegenüber den Alliierten“ zu kümmern; um die wirtschaftlichen Fundamente ohnedies.

"Schaut auf das Volk von Berlin"

In einer Zeit, in der das Schicksal der Stadt in einer heute nicht mehr vorstellbaren Weise ungesichert ist, ist die Sicherung des Überlebens Stadtpolitik, ja auch Kommunalpolitik. Eigentlich ist es ihre wichtigste Seite – und Brandt bewältigte sie in beispielhafter Weise. Er wird zu der Instanz, die den Selbstbehauptungwillen der Stadt hochhält. Da tritt er – als Chruschtschow mit seinem Ultimatum im Herbst 1958 West-Berlin den Lebensnerv brechen will – in die Spuren Ernst Reuters und ruft vor 6oo ooo Menschen auf dem Platz der Republik aus: „Schaut auf das Volk von Berlin, dann wisst ihr, was die Deutschen wollen“. In der größten Krise der Stadt, dem Mauerbau, kämpft er an allen Fronten, um die Stadt vor dem Versinken in die Depression zu bewahren. Dabei ist die akute Krise nur eine Seite ihrer Bedrohung; die andere ist die Gefahr, dass die Stadt – so Brandt – auf ein „zeitgeschichtliches Abstellgleis“ gerät.

Berlin wird schließlich der Ort, an dem er und eine Handvoll Vertrauter, Egon Bahr, Heinrich Albertz und Klaus Schütz, die „heilige Familie“, wie sie man spöttisch nennt, die neue Ostpolitik sozusagen erfinden. Denn sie ist getränkt mit Erfahrungen, die man wohl nur hier machen konnte. Mit Enttäuschungen wie mit der Politik der kleinen Schritte: Dass der 13. August den Vorhang fortgezogen habe, hinter dem es leer war – wie Brandt formuliert – ist es nicht der genaue Ausdruck der Lage Berlins? Und wo sonst hätte die minimale Mauerdurchbrechung der Passierscheinregelung 1963 erdacht werden können?

Als Brandt 1966 dem Ruf der Partei nach Bonn folgt, um als Außenminister in die Große Koalition von CDU und SPD einzutreten, beharrt er darauf, dies sei kein Abschied von Berlin, sondern der „Beginn eines neuen Abschnitts der Arbeit für Berlin“. Das kann man als wohlfeile Formel verstehen, um den Berlinern den Abgang zu versüßen. Aber hat es nicht doch, sieht man aufs Ganze von Brandts Wirken, einen Hauch von Wahrheit? Am Tag nach der Maueröffnung ist er bereits in Berlin: Verkörperung der Verbundenheit mit der Stadt, die das auch so sieht. Drei Jahre später wird er in Berlin begraben: Ein Kreis hat sich geschlossen.

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