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Cyber-Mobbing, der neue Weg der Aggressiven, ist verbreitet und armselig.

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Zunehmende Aggressionen im Alltag: Dauernd eskalationsbereit

Wir schimpfen, zetern, schreien Mordio. Und das jetzt auch in den sozialen Netzen. Man kann das latente Aggression nennen. Nimmt sie zu? Wo fängt sie an?

Die Frage ist, ob Hassmails überhaupt hierhergehören. Ob es schon so weit ist, dass sie vorkommen müssen, wenn es um alltägliche und ganz gewöhnliche Aggressionen geht. Der hilfreiche Redakteur jedenfalls, mit dem man wegen dieses Themas bereits die dritte Unterhaltung führt, hält es der Aktualität verschiedentlicher Hasserzeugnisse gegenüber für unangemessen, sie zu ignorieren. Er hat wahrscheinlich recht. Anonyme, von Vernichtungswillen triefende elektronische Post ist ein Problem. Sie verletzt mehr und mehr Menschen und hinterlässt auch nicht gerade den Eindruck, als habe sie vor, bald wieder zu verschwinden. Im Gegenteil, aus ihren Trampelpfaden sind längst mehrspurige, gut ausgeleuchtete Highways geworden. Für die Hassmails und ihre in Buchform veröffentlichten Ableger wie Machwerke eines Akif Pirinçci oder Thilo Sarrazin läuft es prima. Im Hochgefühl neuer digitaler Reichweiten können sie rasen.

Topmodel-Kandidatin Aminata wurde beschimpft - und blieb cool

Dabei wären ihre Verfasser überrascht, wenn sie hören könnten, was zum Beispiel der Psychoanalytiker über sie sagt. Wie er über sie redet, als wären sie einfach bloß narzisstisch gekränkte, analfixierte Jammerlappen. Kleine Sadisten, die meinen, ein schwarzes Model würde besser „vergast“. Aminata, das junge Model in der aktuellen Staffel von „GNTM“, hat die kranke Psyche durchschaut. Sie lässt die bemerkenswert rüden Kommentare stehen, entfernt die Spuren des Hasses nicht und zeigt die Hassmails als das, was sie sind: eine Kloake, die man denen überlassen soll, die sich darin baden wollen. Souverän abwenden kann man sich nur, wenn klar ist, wovon man sich abwendet. Und das muss die schlimmste Kränkung für die Verfolger sein. Dass man ihnen die Droge der Angst entzieht. Dass ihr Hass nicht ehrfurchtgebietend erscheint, sondern erbärmlich.

Um also auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, nein, kranke Hassmails gehören nicht zu den Formen der Aggression, denen man den Triumph gönnen will, als neuer Standard der Aggression zu gelten. Es hieße, sich jener narzisstischen Selbsterhöhung zu ergeben. Dabei lässt sich natürlich leicht verstehen, wie die Hasser zu der Überzeugung kommen, das Internet sei der ideale Ort ihrer Selbstverwirklichung. Es liegt auf der Hand. Wenn Aggression und Hass, jede Art von Bewertung und Meinungskampf sich in der Sekunde, womöglich anonym, in der ganzen Welt vernetzen lassen, kann das bei empfänglichen Personen einen Beißkrampf auslösen. Angeschlossen an den Datenkreislauf, aufgeladen mit dem Gefühl der Maßgeblichkeit, wird die eigene Botschaft zur ständigen Drohung im Handy des Empfängers. Als Allmachtfantasie schimmert sie auf dem Display. Und angenommen, es ist wahr, dass das Handy für viele bereits zum eigenen Körper gehört, ließe sich diese Black Box der Aggression ohne Amputation nie wieder abstellen.

Grußlos den Hörer aufgelegt, mitten im Gespräch gegangen

Eine Horrorvorstellung, ein Grauen, gegen das man sich am besten wehrt, indem man bescheidener fragt und im mutmaßlich veralteten Maßstab beobachtet. In der analogen Welt, beim Mittagessen, in der U-Bahn. Das Beispiel mit dem Typen in der Bibliothek, der einem seit Wochen beim Vorbeigehen Grimassen zieht und dazu den Mittelfinger zeigt, hat einem der hilfreiche Redakteur allerdings schon weggenommen. Bei diesem Herrn ginge es offensichtlich um Krankheit und nicht um Aggression. Man solle lieber überlegen, ob es aggressiv sei, sich mitten im Gespräch umzudrehen und zu gehen. Ob es aggressiv sei, den Hörer grußlos aufzulegen. Unmöglich kann er das persönlich meinen. Aber die Spur ist gut, und sie führt zu einem noch viel winzigeren und viel interessanteren Beispiel. Es gehört, wie das Telefonhörer-Beispiel, in eine bürgerliche, geschichtsversessene Welt, die Aggression als etwas betrachtet, das beherrscht und kultiviert werden muss. Es kommt bei Steven Pinker vor, dem Harvard-Forscher und Evolutionspsychologen, der 2011 ein sehr dickes Buch mit dem Titel „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ geschrieben hat, worin er mit eindrucksvollem, methodologisch jedoch angreifbarem Zahlen- und Quellenmaterial, zu belegen sucht, dass Gewalt seit einem blutrünstigen Mittelalter dramatisch an Einfluss verloren habe. Nach Pinker leben wir in den friedfertigsten Zeiten, die es jemals gab. Katzen häuten, Frauen verbrennen oder vierteilen gelte nicht mehr als gesellschaftlich anerkannter Zeitvertreib. Die Mordraten seien niedrig wie nie zuvor. Pinkers Thema ist die Gewalt, nicht die Aggression für zwischendurch, die er als durch Zivilisationsprozesse gemilderte Form begreift. Das angekündigte Beispiel betrifft die Tischmanieren, und damit niemand glaubt, jetzt werde es harmlos, die Handhabung des Messers.

Es ist das heikelste, gefährlichste, unzivilisierteste aller Essgeräte, und Pinker beschreibt, wie es in seinem Elternhaus selbstverständlich zur Erziehung gehörte, dieses potenzielle Mordinstrument so diskret und unauffällig wie möglich zu benutzen. Mit dem Messer Kartoffelreste oder Soße zusammenschieben, Erbsen schubsen, das würde dem Messer unangemessen starke Präsenz verleihen und den Teller symbolisch in ein Schlachtfeld verwandeln. Es wäre unhöflich, weil aggressiv, dem anderen das zuzumuten, ihn zu verwickeln in den Anblick eines Gemetzels. Das würde Steven Pinker sagen. Und auch jeder Benimmtrainer. Wie gierig, wie ungeschickt, wie unbesorgt um das Vergnügen des Gegenübers. D

Wo steckt die Aggression? Es ist wie auf einem Suchbild

as sind nicht solche Zeitgenossen, die ihren Pastasalat mit Plastiklöffeln aus Plastikbechern essen und dazu auf mindestens das Display eines mit dem Internet verbundenen Gerätes starren. Man kann sich ernsthaft fragen, was diese Szene im Hinblick auf den aktuellen Umgang mit Aggression zu bedeuten hat. Da wäre der Löffel, das älteste und uneleganteste Essgerät. Er könnte für eine gewisse Naivität, für ein mangelhaftes Bewusstsein gegenüber den Formen der Höflichkeit, für eine gewollte Blindheit gegenüber den eigenen Schatten sprechen. Die Aggression wird gewissermaßen verleugnet. Auch das Plastiktöpfchen suggeriert Friedfertigkeit und kindliches Wesen. Andererseits verseucht Plastik aber die Weltmeere und das Grundwasser, was man wiederum aggressiv deuten könnte, wären die Weltmeere in einem Berliner Coffeeshop um die Mittagszeit nicht so verdammt weit weg.

Es ist fast wie auf den Suchbildern einer Fernsehzeitschrift. Wo ist die Maus? Wo steckt sie, die Aggression? Löffelchen, Töpfchen und Display – und schon wieder lockt das Internet. Die Aggression, darauf scheint es hinauszulaufen, wechselt die Zeichenebene. Sie legt im täglichen Umgang keinen Wert mehr auf die Codes der analogen Welt. Ihre Bühne ist nicht mehr der Salon, das Kaffeehaus, der Mittagstisch, sondern die amorphe Welt des Konsums, in der Aggression bemerkenswert lässig vorgetragen wird. Oft tritt sie geradezu entspannt dabei auf. Ein junger Mann in der prall gefüllten U-Bahn scrollt weibliche Profile. Er schert sich einen Dreck darum, dass ihm, vorgebeugt, wie er sitzt, jeder aufs Display schauen kann. Es kümmert ihn nicht, wie aggressiv und verletzend seine Schamlosigkeit auf die umstehenden weiblichen Fahrgäste wirkt. Detailgenau holt er die für ihn attraktivsten Damen ins Bild, prüft, verwirft, prüft wieder. Er ist derart intensiv damit beschäftigt, sich den nächsten Fick zu besorgen, dass er fasst seine Haltestelle verpasst. Er stolpert nach draußen, bleibt auf dem U-Bahnsteig stehen und hält sich wieder die nackten Frauen vors Gesicht, die er für einen gehasteten Schritt und eine kurze Orientierungslosigkeit hatte verlassen müssen.

Reicht es, dem notgeilen Blick eines jungen Mannes ins Internet zu folgen, um zu verstehen, wie Aggression heute auftritt, welche Wege sie geht? Und ist die Aggression tatsächlich qualitativ eine andere, wenn sie sich eines umwälzend neuen Mediums bedient? Wie gesagt, gegen die digitale Hybris sieht man am besten nach draußen. Man stellt die Nachrichten an. Das genüge ihr, sagt eine der renommiertesten Aggressionsforscherin, die Psychologin Barbara Krahé, um am Problem der Aggression zu verzweifeln.

Ist Konsens das neue Druckmittel einer latent aggressiven Mehrheit?

Barbara Krahé, Professorin in Potsdam, reagiert kühl und geradezu abweisend auf den Wunsch nach einer Entscheidung. Werden wir nun aggressiver oder nicht? Ja oder nein? Leben wir mehr und mehr ein geheimes, aggressives Leben im Internet? Ja oder nein? Ist der Konsens das neue Druckmittel einer latent aggressiven Mehrheit? Auf solch „erschreckend simple“ Thesen will sich Barbara Krahé nicht einlassen. Sie spricht von neuen Ausdrucksformen der Aggression, weder von einer steigenden noch einer sinkenden Aggressivität. Die Anonymität des Netzes begünstige indirekte Formen der Aggression wie das Mobbing, sagt sie. Daraus aber zu schließen, dass sich die Aggression als solche verändere, sei schlicht unseriös.

Aggression soll verletzen, wehtun und schaden

Man muss hier wahrscheinlich dazusagen, wie Barbara Krahé Aggression definiert, nämlich nicht als inneren Trieb, als evolutionär wirksame Kraft, sondern als antisoziales Verhalten. Das, was der Volksmund „gesunde Aggression“ nennt, kommt hier nicht vor. Aggression soll verletzen, wehtun und schaden. Warum Menschen sich aggressiv verhalten, wenn sie aus eigenem Erleben nur zu gut wissen, wie schmerzhaft und entsetzlich es ist, aggressiv oder gar brutal behandelt zu werden – diese Frage sei bis heute nicht vollständig verstanden, sagt die Wissenschaftlerin. Geduldiges Erforschen sei nötig, keine schnelle Thesenbildung. Der hilfreiche Redakteur hatte im Grunde etwas Ähnliches geraten. Man solle durch die Straßen laufen und ganz genau nachsehen, hatte er gesagt und von der Frau im Zigarettenladen erzählt, die ihn heute Morgen in einem Ton angefahren habe, dass es ihn quasi rückwärts aus dem Laden herauskatapultiert habe.

Mag sein, man ist da einfach empfindlicher, wenn einem auf dem Weg in die Landespolizeischule nach Spandau ein Autofahrer „du alte Fotze, du“ entgegenschreit.

Polizisten haben Routine, sie lächeln Provokationen weg

Ein grauer Tag ist das, und je länger man über die Aggression nachdenkt, desto dunkler wird er. Bei dem englischen Schriftsteller Martin Amis findet sich eine Stelle über das Kämpfen. Es existiere nur ein Weg, gut im Kämpfen zu werden, heißt es dort. „You have to do it a lot.“ Man muss es oft tun. Wie großartig das sein müsste, jenem Autofahrer einen Kopfstoß zu verpassen, ihn mit blutiger Nase zu sehen. Es ist nur so ein Gedanke, eine Rachefantasie. Wie seltsam es sei, sagt eine junge Ärztin, dass die Aggression an manchen Tagen überall und an andern nirgends zu sehen ist. Bei der Polizei gibt es Kaffee und Kekse.

Pauschalurteile gibt es dafür keine, darauf legen Polizeirat Daniel Eberhardt und Erster Kriminalhauptkommissar Eckhardt Lazai den größten Wert. Die Aggression ist alt, menschenalt. Der Mensch ist das aggressivste Tier, zugleich sind seine natürlichen Waffen äußerst beschränkt. Im Laufe eines einzelnen Menschenlebens hat die Aggression meist die Tendenz, indirekter, subtiler zu werden.

Der Mensch ist das aggressivste Tier

Die Kraft lässt einfach nach, oder man wird weise. Die Polizisten sind die Profis und haben Routine im Umgang mit Aggression. Sie lächeln müde, wenn man sie fragt, ob sie diese grauen Tage kennen. Jemand spuckt aus im Moment, als man an ihm vorübergeht. Jemand lacht, als man mit zwei Einkaufstüten stolpert. Aufstehen und weitergehen. Auf keinen Fall – das wird in der Landespolizeischule mit den Profis deutlich – darf man sich anstecken lassen, weder als abschätzig behandelte Frau noch als Polizist, der die Unverschämtheiten gar nicht mehr im Einzelnen aufzählen mag.

In seiner Arbeit, sagt Daniel Eberhardt, dürfe er sich niemals von Affekten leiten lassen. Übersicht. Deeskalation. Wer in den Abgrund schaut, wer die Verachtung erwidert, der hat verloren, der ist Teil des Spiels. Eckardt Lazei, Kommunikationstrainer und erfahren in Einsätzen in Afghanistan und dem Kosovo, setzt sich auf dem Heimweg in der U-Bahn weg oder steigt aus, wenn einer meint, ihn anpöbeln zu müssen. Es ist eine Sache der Erfahrung, der Übersicht, oder wie Daniel Eberhardt es nennt, des „Gefahrenradars“. „Cool zu bleiben, das ist das A und O.“ Sonst schaukeln sich die Dinge hoch. „Die Anlässe“, weiß der Polizeirat, „sind derart nichtig. Ein falscher Blick genügt.“ „Ansatzlose Aggression“ nennt er es, „Kippsituationen“, in denen aus dem Nichts, der blanken Harmlosigkeit plötzlich ein Fiasko wird. Er habe, und das sage er bei der zweiten Tasse Kaffee nicht als Polizist, sondern als Privatmensch, den Eindruck, diese ansatzlose Aggression nehme zu. Da fahre jemand nicht schnell genug, und schon könne das Dinge auslösen, über die wenig später der Richter zu entscheiden habe.

Diagnose: Die Impulskontrolle schwächelt

Der Polizeirat schaut betrübt. In allen Gesellschaftsschichten begegne er Menschen, die Autorität nicht mehr als solche erkennen können. „Das eigene Recht zählt, die persönliche Freiheit, und dann erst mal lange nichts.“ Eine Auswechslung zum Beispiel, die er als Handballtrainer verordnet, und erboste Eltern bauen sich vor ihm auf: „Wie gehen Sie um mit meinem Kind?“ Ihm bereite das ein ungutes Gefühl. Seine Diagnose steht: Die Impulskontrolle schwächelt. Die Fähigkeit, das Gegenüber und die eigene Aggressivität überhaupt im Ansatz zu erkennen und zu verstehen. Geschweige, sie zu bedauern. Es scheint ein eher unbewusster Zustand zu sein, in dem sich die Aggression augenblicklich befindet. Man überlässt sie den Hassmails, den Bestsellern.

Im Coffeeshop sammelt eine Küchenhilfe tagelang die Teller ein. Die Gäste, die gebeten sind, das Geschirr selbst zurückzubringen, schauen in der Regel nicht auf. Sie würden ihre Haltung niemals als aggressiv beschreiben. Sie haben, sagen sie, den Mann gar nicht gesehen.

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