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Zur Lage der Nation (4): Politische Krise? Ja, zum Glück!

Es sind keine sozialen Fragen, die den Bürgerprotest auslösen. Trotzdem entzieht das Volk seinen Stellvertretern das Vertrauen. Eine Krise? Ja, zum Glück!

Uns geht es gut, sagen die Demonstranten in Stuttgart. Uns auch, sagen sie im Wendland. Uns ja sowieso, sexy wie wir sind. Das sagen sie in Berlin. Niemandem geht es in Deutschland so schlecht, dass er die Demokratie dafür verantwortlich macht. Soziale Fragen erregen nicht die Gemüter, trotzdem artikuliert sich der Volksunwillen in einer Breite, wie ihn das Land lange nicht – vielleicht noch nie – erlebt hat. Erstmals drängt der Protest nicht vom gesellschaftlichen Rand aus in die Mitte. Auch die Akteure zieht es nicht in die Peripherie. Peter Sloterdijk hat deshalb jüngst in einem „Spiegel“-Essay an die frührömische „Geburt der res publica aus dem Geist der Empörung“ erinnert.

So weit muss man nicht zurückgehen. Revolutionäres Pathos ist verfehlt. Das demokratische Bewusstsein wird hierzulande nicht von antiken Gespenstern heimgesucht. Geprägt haben es vielmehr die Erfahrungen von Weltkriegen und davon, dass die Deutschen einmal imstande gewesen sind, ihre eigene Intelligenz zu vertreiben oder auszurotten.

Dass nun aber ein Bundespräsident kapituliert vor seinem Mangel an Einfluss und zurücktritt, dass der Bundestagspräsident sich offen über das zu hohe Tempo parlamentarischer Beschlüsse beklagt, und dass sich auf den Straßen des Landes ein breiter Bürgerprotest gegen den Automatismus ebensolcher Beschlüsse artikuliert – das kann man auch nicht ignorieren. Das fein ausbalancierte – viele sagen: deshalb quälend unbewegliche – System des Machtausgleichs hat seine Legitimation offenbar auch dort verloren, wo es zu Hause ist. Mit der Schwäche der Merkel-Regierung allein, ist das nicht zu erklären. Aber womit dann?

Abgeordnete überblicken Folgen ihrer Politik nicht mehr

Ein versierter Jurist meinte jüngst, dass die Entscheidungen der Verfassungsrichter mehr Einfluss auf die Geschichte der Bundesrepublik hatten, als der Bundestag. In der Tat gibt es kaum ein Gesetz, das nach seiner Verabschiedung nicht die Gerichte beschäftigt. Oft genug wird es von höchsten deutschen Rechtsinstanzen einkassiert. Und Horst Köhlers Amtsfrust könnte auch daher gerührt haben, dass er schlecht gemachte Gesetze im Eilverfahren unterzeichnen sollte. Hinzu kommt, dass die Gesetze heute in ein Dickicht aus Sonder- und Ausnahmeregeln sowie europäischen Bestimmungen gepflanzt werden müssen. Sie zu erlassen, ist so kompliziert geworden, dass Abgeordnete die Folgen ihrer Entscheidungen selten überblicken können.

Gleichzeitig fühlt sich eine wachsende Zahl von Bürgern an die parlamentarischen Entscheidungen nicht gebunden. Sie entziehen ihren Stellvertretern die Zustimmung schneller, weil in einer zunehmend zersplitterten Gesellschaft die vertraute Nähe zu Parteien schwindet. Politische Lager haben sich aufgelöst. Manifeste kulturelle Übereinstimmungen, wie sie die Bauern über Jahrzehnte mit der Union verbanden, sind abhandengekommen. Was heißt das? Ist die repräsentative Demokratie in der Krise? Aber Ja! Wäre sie es nicht, hätte sie sich erledigt.

Der Wunsch nach einer direkteren Demokratie, der sich immer unverhohlener im Ruf nach Volksentscheiden ausdrückt, ist ein wichtiges Korrektiv, kein Krisensymptom. Gegenwärtig steckt die Politik in dem Dilemma, dass sie sowohl immer professioneller als auch offener sein muss. Dem Expertenapparat steht ein Volk von Besserwissern gegenüber. Kein einziger von denen wollte selbst Gesetze verfassen, fühlt sich aber doch durch den unproblematischen Zugang zum Informationsreichtum der elektronischen Medien stimmberechtigt. Umfragen zu jedem Thema bestätigen ihn darin, direkt dabei zu sein.

Politik muss professionell und gleichzeitig offen sein

Das ist ein Erbe der „Mediendemokratie“. Seit Einführung des Privatfernsehens 1984 glaubte sie sich selbst vormachen zu können, jedes politische Problem sei eine Frage der Vermittlung und würde zudem von der Stimmenvielfalt der Kommentatoren wie von selbst nivelliert. Wann es genau dazu kam, dass diese PR-Blase der Berliner Republik platzte, ist schwer zu sagen. Vielleicht mit Gerhard Schröders Versuch, die Hartz-Gesetze als „Reform“ des Sozialstaats zu verkaufen. Denn erstens glaubte ihm das sowieso keiner. Und zweitens war Deutschland aus seiner Wohlstandsillusion gerissen, bei der nicht mal Zerstreuung auf 99 Kanälen half. Das ist schon mal ein Fortschritt. Politik macht einen Realitäts-Check. Nur, wie es weitergeht, kann niemand vorhersagen.

Vieles von dem aktuellen Ringen um Machtbalance ist in früheren Demokratie-Epochen der BRD angelegt. Von der Gründerzeit der Adenauer/Erhard-Ära wirkt der Leitgedanke fort, dass soziale Gerechtigkeit als Fundament demokratischer Partizipation unerlässlich ist und die Akteure davor schützt, sich zu radikalisieren. Das funktionierte auch zunächst ganz gut vor dem nachklingenden Schreckbild der Weimarer Republik. Aber der Muff der Ämter war erstickend. So haben die psychedelisch-optimistischen 60er in Brandts Versprechen, „mehr Demokratie“ zu wagen, einen späten Widerhall gefunden.

Eine Entwicklung, die in den 70ern außerhalb der parlamentarischen Institutionen mit der Apo eine breite Basis fand. In den 80ern wurde der unruhige Geist der Straße in die Strukturen reintegriert, die Grünen zogen in den Bundestag ein und eine desillusionierte Null-Bock- Generation verlor unter der Kanzlerschaft Kohls jegliches Interesse an Politik. Die Einheitsjahre der 90er lehrten nicht nur, dass nichts von Dauer ist, keine Staaten und nicht einmal Kohl. Sondern auch, dass grundsätzliche Fragen an die Verfassung, die sich aus dem Umbruch in beiden Teilen Deutschlands ergaben, durch die Verschmelzung selbst hinfällig wurden.

Die nuller Jahre und den Boom von virtuellen Casting-Formaten hat das Land gerade hinter sich. Und damit die Ära einer technologischen Umstellung, die schon 2007 mehr als 70 Prozent der Haushalte an das Internet angeschlossen hat. Das ist der Nährboden, aus dem sich die Bürgerproteste zurzeit erheben – gut vernetzt und auf dem neuesten Stand, brechen diese Online-Gemeinschaften in den politischen Alltag ein.

Und schon wird in Stuttgart und anderswo ein neues Modell erprobt: die Wahrheitskommission. Sie kann nichts entscheiden, sondern nur schlichten. Das ist zutiefst demokratisch. Wir bräuchten mehr davon.

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