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Westfälische Idylle. Die Stadt Münster.

© dpa

Zur Wahl in NRW: Wie tickt der Westfale?

Am Sonntag wird in Nordrhein-Westfalen gewählt. Was sind das für Menschen, die da leben? Lesen Sie hier den ersten Teil über die Westfalen.

Von Lutz Haverkamp

Wer jemals Gast auf einem Herbert-Grönemeyer-Konzert war, der könnte glauben, sehr, sehr viele Menschen kommen aus Westfalen. Wenn der Barde, der zwar einen Großteil seiner Kindheit im Revier verbracht hat, aber im niedersächsischen Göttingen geboren wurde, seinen Hit „Bochum“ zum Besten gibt, schallt es ihm zehntausendfach aus den Kehlen seiner Fans entgegen: „Bochum, ich komm’ aus dir. Bochum, ich häng’ an dir.“ Doch die wenigsten, die da lauthals mit Grönemeyer einstimmen, dürften Bochumer und auch kaum Westfalen sein. Solche gefühlsseligen Momente sind den Menschen, die an Ruhr, Ems, Lippe und Sieg leben doch eher unangenehm. Nicht, weil sie Musik nicht mögen würden. Aber die öffentlich vorgetragene Extase ist kein typisch westfälisches Verhaltensmuster. Ganz und gar nicht.

Doch es ist Vorsicht geboten! Nicht alle überlieferten Klischees über den ach so sturen, dickschädeligen, maulfaulen und kontaktscheuen Westfalen entsprechen der Wirklichkeit. Das liegt allein schon daran, dass Westfalen viel größer und und die Landschaft vielfältiger ist als selbst mancher Westfale oftmals glaubt und weiß. Die Menschen zwischen Siegen-Wittgenstein und Sauerland im Süden, im Münsterland und Steinfurt im Norden, im Pott im Westen und in Ostwestfalen mit Bielefeld im Osten (und nehmen wir den dritten NRW-Landesteil Lippe mal dreisterweise mit auf in dieses Westfalen) haben ihre ganz eigene Sicht auf die Welt. Sie definieren sich über viel kleinere Einheiten. Man ist zwar immer Westfale, zuerst ist man aber Münsterländer, Sauerländer, Paderborner oder kommt aus dem Ruhrpott. Und die Lipper – wie der amtierende Bundespräsident (Detmold) und der letzte männliche Bundeskanzler (Mossenberg) – sind dann noch einmal ein ganz spezieller Fall für sich. „Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich“, sagt das Sprichwort. Und das bezieht sich beileibe nicht nur auf die Nahrungsaufnahme.

Er denkt nach, bevor er redet

Zugegeben: Als Plaudertasche fällt der gebürtige Westfale eher selten auf. Er denkt nach, bevor er redet. Diese – zugegeben – positive Deutung der verbalen Zurückgezogenheit hat in der heutigen schnelllebigen Zeit durchaus ihre Vorzüge. Und der Westfale kann kurz und knapp. Der Satz: „Ich habe Sie leider nicht verstanden, könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen“ wird im Plattdeutschen gewöhnlich mit „Hä?“ übersetzt. Das ist keine Maulfaulheit. Das ist Effizienz.

Zwischen den Fachwerkhäusern und Bauernhöfen, den hauptsächlich katholischen aber auch vielen evangelischen Kirchen, den Naturschutzgebieten und mittelalterlichen Städten leben Menschen, die ordentlich zu feiern wissen. Der westfälische Karneval ist bunt, lustig – und gut organisiert. Das gehört sich schließlich so. Der Westfale liebt seinen Verein. Der organisiert für ihn das karnevaleske Treiben im Winter, das Schützenfest im Sommer. Und er kümmert sich um die Bewahrung der plattdeutschen Sprache oder um die ordnungsgemäße Vermehrung von Kaninchen, Tauben oder Rassegeflügel. Den schönsten Deutschen Riesen (eine Kaninchenrasse) gezüchtet oder den Vogel (aus Holz) von der Stange geschossen zu haben, ist immer noch eine Ehre. Für einen selbst. Für den Verein. Der Verein ist Heimat.

Seine Heimat verlässt der Westfale nur ungern. Und er lässt ungern welche von außen hinein. Nicht, dass er Flüchtlingen, Ausländern, Touristen oder deutschen Nicht-Westfalen nicht aufgeschlossen und hilfsbereit gegenüberstünde. Das nicht, der Westfale ist im besten Sinne ein Gutmensch und liebevoller, fürsorglicher Gastgeber. Aber sein Herz zu erobern, seine Freundschaft zu gewinnen – das ist ein hartes Stück Arbeit. Manche sagen, man müsse mit einem Westfalen erst gemeinsam einen Sack Salz gegessen haben, bevor man als Zugezogener irgendwie dann doch dazugehöre. Aber eine so gewonnene Freundschaft hält dann vermutlich ein Leben lang. Ein Paohlbürger, wie es im Münsterland heißt, wird man deswegen aber trotzdem nicht. Niemals.

Durch und durch friedlich ist der Westfale. Jede spontane Aggression ist ihm fremd. Das Spontane liegt ihm nicht. Und Gewalt ist ihm viel zu anstrengend, zu laut, zu schnell. Sie ist ihm schlicht wesensfremd. So wie er seine Glücksgefühle eher innerlich auslebt, ist es auch mit seinem Ärger. Seit Alters her. Schließlich ist es die Friedensstadt Münster im Herzen des so schönen Landstrichs, wo 1648 nach 30-jährigem Morden der große Krieg endlich ein Ende fand. Das ist Verpflichtung für die Zukunft. Noch heute zeugt der Friedensreiter, ein Höhepunkt westfälischer Bierbraukunst, vom Stolz der Münsterländer Gastgeber der Friedenskonferenz gewesen zu sein.

Durst wird durch Bier erst schön

Überhaupt das Bier – das einzige Getränk, das der Westfale neben Weizenkorn überhaupt in größeren Mengen zu sich nimmt. „Durst wird durch Bier erst schön“, sagt so mancher Westfale und kann den ganzen Bohai um Getränke wie Wein oder gar Cocktails nicht verstehen. Seine Küche ist wie er selbst: einfach und deftig. Aber lecker. Probieren Sie doch mal bei Gelegenheit Töttchen. Und fragen Sie den Koch besser nach dem Essen, was alles so drin war. Genau in dem Moment hilft dann ein westfälischer Weizenkorn.

Sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mal einen Westfalen außerhalb seiner Heimat treffen, vielleicht in Berlin, gehen Sie bitte fürsorglich mit ihm um. Es wird nicht einfach, der Westfale wird nicht viel reden, schon gar nicht über seine Gefühle oder wie der die geopolitische Weltlage einschätzt. Vermutlich wird er ihnen seine kalte Schulter zeigen und mürrisch vorkommen. Aber bleiben Sie dran. Das mit dem Sack Salz ist nur ein Sprichwort. Versuchen Sie es doch mal mit einem Bier und einem Schnaps. Der Westfale wird es Ihnen danken. Und vielleicht gewinnen Sie einen neuen Freund. Dann sogar fürs ganze Leben.

Der Autor wurde 1969 im münsterländischen Emsdetten geboren. Nach Studium in Münster, Volontariat und ersten Berufsjahren in Bielefeld kam er 2001 nach Berlin. Er feiert regelmäßig Karneval in seiner Geburtsstadt und ist dort Mitglied der Bürger Schützengesellschaft von 1878. Er arbeitet als Leitender Redakteur beim Tagesspiegel.

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