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Politik: Zurück in die Vergangenheit

Das Gedenken an den verstorbenen Gerald Ford betont den starken Kontrast zu Präsident George W. Bush

Je jünger eine Nation, desto größer erscheint bisweilen ihr Wunsch nach historischer Inszenierung. Steil ragen die gotischen Spitzbögen aus hellem Kalkstein in die Höhe, gedämpft dringt das Licht des sonnigen Wintertages durch die bunten Kirchenfenster, die Glocken läuten – nur selten kann man sich in Washington so europäisch fühlen wie im Innern der National Cathedral, in der am Dienstagmorgen der Sarg des Ex-Präsidenten Gerald Ford unter der Vierung aufgebahrt ist, eingehüllt in die Stars und Stripes. An die zehn, fünfzehn Meter über den Bänken, in der Brüstung oberhalb der Spitzbögen der Seitenschiffe stecken die Flaggen der 50 Bundesstaaten rund um das Hauptschiff – wie Fahnen mittelalterlicher Innungen.

Tatsächlich liegt die Einweihung des Hauptbaus, dessen Grundstein 1907 gelegt worden war, nur 30 Jahre zurück – wie Fords Amtszeit. 1976 wurden das Hauptschiff und die Rosette der Westfassade fertiggestellt, im gleichen Jahr verweigerten die Bürger Ford den Verbleib im Weißen Haus und wählten Jimmy Carter. Die Westtürme wurden gar erst 1990 fertig. Am Dienstag wurde Ford mit einem Staatsakt in der Kathedrale geehrt. Er ging als einziger Präsident, der nie gewählt wurde, in die US-Geschichte ein. Nun ist er auch der, der am längsten lebte: 93 Jahre und fünfeinhalb Monate.

Ins Amt gekommen war er durch zwei Skandale. 1973 stolperte Vizepräsident Spiro Agnew über Finanzaffären, Richard Nixon machte Gerald Ford, damals republikanischer Minderheitsführer im Kongress, zu seinem neuen Stellvertreter. Acht Monate später musste Nixon selbst zurücktreten, um einem Impeachment wegen seiner Verwicklung in Watergate, den Einbruch ins Hauptquartier der Demokraten, zuvorzukommen. So wurde Ford im August 1974 Präsident.

Als Mann, der eine gespaltene Nation versöhnt und ein aus der Balance geratenes Land stabilisiert habe, lobt George W. Bush den Toten. Als geradlinigen, integren Politiker ehrt ihn Henry Kissinger, Sicherheitsberater und Außenminister in einer Person unter Nixon und Ford. Mehrfach ist vom Dienen die Rede, nicht vom Herrschen. Die drei noch lebenden Altpräsidenten sind gekommen: Jimmy Carter (82), George H. W. Bush (82) und Bill Clinton (60). Hillary (59) ist an seiner Seite, vielleicht die nächste Präsidentin. Ronald Reagans Witwe Nancy (85) sitzt vorne nahe der Familie Ford, Colin Powell und viele andere Minister aus den Regierungen der letzten fünf Präsidenten, dazu Politprominenz aus dem Ausland wie Israels Vizepremier Schimon Peres.

Seit Tagen nimmt Amerika Abschied von einem Präsidenten, den es lange nicht besonders geschätzt hatte, nicht während seiner Amtszeit und in den Folgejahren. Ford galt als ehrlich, aber nicht herausragend, eine Zufallsfigur ohne historische Bedeutung. Doch nun standen die Bürger drei Tage Schlange vor dem Capitol, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In der Rotunde unter der mächtigen Kuppel defilierten sie an seinem Sarg vorbei. Die Widmungen der drei Kränze mahnten die gewollte Gewaltenverteilung in einer Demokratie an: House of Representatives (Legislative), The Executive Branch (Präsident und Regierung), das Oberste Gericht (Judikative). Das Schlangestehen vom Ostende der Mall hinauf auf den „Hill“ führte den Bürgern die wohlüberlegte politische Geografie der Hauptstadt vor Augen: Der Kongress thront höher als das Weiße Haus.

Fernsehen und Zeitungen schwelgen in detaillierten Erinnerungen, die verklärte Sicht von Fords Amtszeit blieb über den Jahreswechsel Thema Nummer eins, vor Irak, Somalia und Palästina. Ob gewollt oder nicht, die Rückblenden klangen wie ein Kontrast zur Gegenwart unter Bush. Ford war durch und durch Parlamentarier, 13 Mal wurde er in den Kongress gewählt. Geheime Abhör- oder Gefangenenprogramme, am Kongress vorbei und ohne richterliche Kontrolle, waren für ihn undenkbar. Auch Ford hatte es mit einem demokratisch dominierten Kongress zu tun – wie Bush von Donnerstag an –, aber die Zusammenarbeit mit dem Parlament war für ihn keine lästige Bürde, sondern entsprach seinem Selbstverständnis. Wenn nötig, blieb ihm das präsidiale Veto, das er auch nutzte. Bush dagegen neigt dem „imperialen“ Reflex zu, hält es mit dem Lager, das meint, der Präsident werde zu sehr eingeschränkt von den „checks and balances“ des US-Systems und brauche angesichts weltweiter Bedrohungen mehr Handlungsfreiheit.

Im Rückblick ist Ford der Präsident, der die Nation nicht in neue Abenteuer führte, sondern schmerzliche Irrwege beendete: neben Watergate den Vietnamkrieg. Unter Ford wurden 1975 die letzten US-Soldaten aus Saigon abgezogen. Damals entstand das berühmte Bild, wie der letzte Hubschrauber vom Dach der US-Botschaft abhebt. In der amerikanischen Erinnerung verblassen dagegen zwei Leistungen, für die Europa dankbar sein darf. In Fords Amtszeit fielen die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki und Fortschritte bei der atomaren Abrüstung.

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