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Politik: Zurück zur Tradition

In Nordrhein-Westfalen ist die Wechselstimmung verflogen – und die SPD entdeckt das Soziale neu

Die kleine Kunstpause hatte auch ihre Vorteile. Die Landesdelegiertenkonferenz der SPD war zu Ende, und der Landesparteitag konnte aus organisatorischen Gründen nicht sofort beginnen. Während die meisten der Delegierten den ungemütlichen Saal verließen, blieben die Matadore und hatten plötzlich viel Zeit. Spitzenkandidat Peer Steinbrück und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement scherzten mit einer jungen Frau, die am Abend – auch unter Einfluss von reichlich Ramazotti – der SPD beigetreten war und nun Kontakt zur Spitze suchte. Parteichef Franz Müntefering nahm diesen und jenen in den Arm und ließ sich fotografieren. Immer wieder gab er Autogramme, meist auf dem Wahlprogramm, mit dem Peer Steinbrück bis zum 22. Mai werben will. Zu seinem grauen Anzug trug er einen markanten roten Schal. „Den hat mir die Heide in Schleswig-Holstein geschenkt“, sagte er, „den nehme ich nur noch zum Duschen ab.“

Wer sie aus ein wenig Entfernung beobachtete, wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass hier die Elite einer Partei versammelt ist, die noch vor wenigen Monaten fürchten musste, nach 39 Regierungsjahren aus dem Amt gejagt zu werden. „Wir lagen damals hundert Meter zurück, jetzt sind wir bis auf fünf Meter an die CDU herangekommen“, hatte Müntefering gerufen und dann schnell hinzugefügt, „das schaffen wir auch noch, wir setzen auf Sieg“. An solchen Stellen klatschen sie inzwischen begeistert, und dieser Applaus erwächst – anders als in der jüngeren Vergangenheit – nicht mehr aus Verzweiflung und Mutlosigkeit, die Genossen glauben wieder an sich. Bei Steinbrück hört sich das ähnlich an. „Wir liegen fast gleichauf, wir sind aber auf der Überholspur“, lautet sein Befund, der von Demoskopen gestützt wird. Lag die SPD vor neun Monaten noch 20 Punkte hinter der CDU, sind die beiden großen Parteien im größten Bundesland nun schon ganz nah beieinander, mancher Wahlforscher sieht sie schon auf einer Höhe. „Vor allem die Wechselstimmung ist weg“, freut sich Steinbrück, dessen persönliche Werte im Übrigen weit vor denen seines Herausforderers Jürgen Rüttgers liegen. „Der Rüttgers hat weiche Knie“, freut sich denn auch Müntefering, und an dieser Stelle klatschen sie wieder lautstark.

Dabei hatte die SPD in NRW besonders stark unter der Reformdebatte gelitten. Es gab keinen offenen Widerstand gegen den Kurs des Kanzlers – was auch daran lag, dass ihn Steinbrück und Schartau vorbehaltlos unterstützten. Aber der SPD passierte das Schlimmste, was einer Partei passieren kann: Die Mitglieder gingen in die innere Emigration, wenn sie nicht austraten, die Wähler blieben schlicht zu Hause. Seit der Kommunalwahl hat sich das Blatt gewendet, die SPD eroberte manches Rathaus zurück, und Müntefering beschwor das als Trendwende.

Außerdem besannen sich die Nordrhein-Westfalen auf ihre alten Traditionen. „Wir waren immer das soziale Gewissen der Partei“, betonte Schartau, und auch Steinbrück sprach nicht mehr nur als kalter Modernisierer. „Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die friedfertig nach innen und außen ist“, wiederholt er in Bochum diesen Teil seiner Botschaft, und er reichert sie damit an, dass er – erstmals – an Johannes Rau und dessen Wahlspruch „Versöhnen statt Spalten“ erinnert.

Während Steinbrück darüber spricht, dass der Staat auch künftig eine Rolle in Gesellschaft und Wirtschaft spielen wird, eine Wertedebatte anmahnt und den Chef der Deutschen Bank geißelt („hier verliert ein Mann die Balance“ ), blendet die Regie hinter ihm auf der blauen Wand das neue alte Motto der SPD ein: stärker werden – menschlich bleiben. Am Ende ist Steinbrück so nah bei den Delegierten wie nie zuvor. Sie belohnen ihn mit 96 Prozent der Stimmen als Spitzenkandidat.

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