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Zuschussrente: Alleingang der Arbeitsministerin

Mit ihrem Vorstoß in der Rentendebatte hat Ursula von der Leyen die CDU in Geiselhaft genommen für ein Problem, das erst in vielen Jahren wirklich eines ist. Über die Ungeduld einer Ehrgeizigen.

Von Robert Birnbaum

Es gibt Szenenbilder, die sind wie für sie geschaffen. Neulich in ihrem Ministerium in der Wilhelmstraße zum Beispiel, das war perfekt: Eine hohe, lichte Halle im Foyer, mittendrin diese kleine Person in lichtrosa angehauchtem Kostümjäckchen, harmlos lächelnd, und links neben ihr in schwarzen Anzügen drei ernst dreinblickende Riesen. Die Bundesarbeitsministerin hat die Junge Gruppe der CDU/CSU-Fraktion zum Gespräch über die Zuschussrente empfangen. Man hat eineinhalb Stunden aneinander vorbeigeredet. Man wird gleich den Dissens in diplomatisch gesetzten Worten verkünden. Ein Vierter von den Jungen bleibt hinter den Kameras. Aber einer Ursula von der Leyen entkommt man nicht. Sie strahlt und winkt: Ach, gehen Sie doch dazu, hier rechts neben mich! Der Vierte zockelt mürrisch vor. Jetzt ist das Bild komplett: Rosajäckchen und die vier bösen schwarzen Riesen. Ein modernes Märchen. Nur, wie die meisten Märchen ist auch dies nicht wahr.

In Wahrheit ist es eher so, dass die zarte kleine Person in der Mitte seit ein paar Tagen die gesamte CDU/CSU nebst Kanzlerin, Fraktionsvorsitzendem und bayerischem Ministerpräsidenten in Geiselhaft genommen hat. Das Erpresserschreiben umfasste acht Seiten sowie eine Tabelle als Anlage. Es war als Einladung zum Fachgespräch an die Jungen getarnt („Sehr geehrte Herren Abgeordneten, liebe Kollegen“), fand aber vorher schon den Weg in die Redaktion einer großen Sonntagszeitung.

Seither bestimmen Worte wie „Renten-Schock“ und „Renten-Alarm“ die Schlagzeilen der Republik. Wenn nichts passiert, lautet die Botschaft der acht Seiten nebst Tabelle, dann droht dem Maurer, der Verkäuferin oder der Krankenschwester als Rentnern der Weg zum Sozialamt. Hinter dieser Botschaft steckt unausgesprochen eine zweite. Ihr Adressat ist die eigene Partei: Wenn ihr mir nicht ganz schnell folgt, lautet sie, dann droht euch im nächsten Jahr ein Rentenwahlkampf. Und wie der für euch ausgeht, das wisst ihr doch selber!

Oh ja, das wissen sie. Im Adenauerhaus wissen sie es, in der Münchner Staatskanzlei, im Kanzleramt, und der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder weiß es auch, schon weil der im früheren Leben ein paar Jahre Sozialdezernent war. Es braucht bloß in der Zeitung zu stehen, dass das Rentensystem ab dem Jahr, sagen wir, 2060 Probleme bekommen wird – schon rufen 83-Jährige mit zitternder Stimme in der CDU-Zentrale an. Schwer genug, den erregten Alten dann klarzumachen, dass sie das eher nicht mehr betreffen wird. Aber was will man Leuten sagen, die von der Leyens Brief gelesen haben? Dort steht es schließlich, bitteschön, von der zuständigen Ministerin beglaubigt: „ganz normale fleißige Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft“, von 2500 Euro brutto abwärts: „von Altersarmut bedroht“!

In der Union schwanken sie seit dem Sonntag des „Rentenschocks“ vor einer Woche zwischen Wut und Sorge. Und nicht wenige fragen sich, was diese Frau um Himmels willen antreibt!

In der Union verbreitet sich der Verdacht, sie sei eine Rote

Die Antworten fallen je nach Standpunkt unterschiedlich, aber meist recht einfach aus. „Die hat lange nichts mehr zustande gebracht“, schimpft zum Beispiel einer ihrer innerparteilichen Widersacher, „die will wieder in die Talkshows.“ Das wäre dann jedenfalls schon mal gelungen. In den Talkshows hat sie es im Moment übrigens relativ leicht, weil dort armen Rentnern immer jedes Mitleid sicher ist und Ministerinnen, die sich für arme Rentner einzusetzen versprechen, jede Sympathie. Neulich musste sie im Studio sogar bloß dasitzen und zuschauen, wie sich der Wirtschaftsforscher und die Gewerkschaftsfrau gegenseitig angifteten.

„Die ist doch immer eine Einzelkämpferin gewesen“, sagt ein anderer, der sie ebenfalls nicht besonders leiden kann. Auch das stimmt. Drei Tage lang selbst ernannte Bundespräsidentenkandidatin, Frauenquote für Aufsichtsräte, zuletzt „Schlecker-Frauen zu Kita-Erzieherinnen“ – lauter Ideen, die immer dem gleichen Muster zu folgen scheinen: öffentlicher Solo-Aufschlag, Interviews im Reihenabwurf, und wenn es wieder mal schiefgegangen ist – erst recht lächeln.

Video: Vorerst kein Konsens bei den Renten

Dieses Lächeln regt ihre nicht wenigen Gegner vermutlich mehr auf als der in der Union verbreitete Verdacht, heimlich sei die Frau aus Niedersachsen wahrscheinlich eine Rote. Der Verdacht geht um, seit sie in Berlin Familienministerin wurde, den Büroleiter von der sozialdemokratischen Vorgängerin übernahm und quasi im Alleingang das Elterngeld durchdrückte. Auch damals hat sie um so gewinnender gelächelt, je stärker der Gegenwind wurde.

Für das Lächeln kann sie nichts, es ist ein Erbstück ihres Vaters, des langjährigen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Seit der Zeit, als Angela Merkel die Sozialministerin in Hannover als Mitstreiterin im Kampf um eine Gesundheitsprämie entdeckte, hat es aber seine Unschuld verloren. Hart ist es geworden, an- und abschaltbar, ein Kampfinstrument wie die stahlhelmfeste Frisur. Kontrolliert eben. Wahrscheinlich reißt sich im ganzen politischen Berlin niemand derart konsequent am Riemen. Das Privatleben mit Mann und Esel und sieben Kindern ist tabu, von früher gibt es immer nur die Geschichte von „Supermutti“, die den Doktor med. im Wochenbett per Laptop absolviert; über ihr Hobby – Dressurreiten – weiß man kaum mehr, als dass sie es betreibt. Für das einzige längere Fernsehporträt hat die Südwestfunk-Autorin Eva Witte monatelang die Kamera mitlaufen lassen müssen, bis sie die Frau Ministerin im Fonds ihres Dienstwagens ganz kurz ertappte: „Haben Sie die ,Süddeutsche’ schon ... beatmet?“ fragt von der Leyen ihre damalige Pressesprecherin am Telefon.

Beatmen – was für ein Wort für gezielte Pressearbeit! Im Beatmen ist sie gut. Wer sie jetzt fragen würde, wieso sie diesen ganzen Rentenalarm geschlagen hat, bekäme die Geschichte von der eifrigen Sozialministerin zu hören, die seit eineinhalb Jahren getreu des Koalitionsvertrages einen „Rentendialog“ führt, der dabei plötzlich ein Problem auffällt, dessen Ausmaß vorher keinem klar war, und die sich still an die Lösung macht.

Die schien auf gutem Wege. Die Zuschussrente sollte unauffällig gemeinsam mit dem Gesetz zur Rentenbeitragssenkung 2013 durch Kabinett und Parlament. Mit Merkel hat sie über das Thema vor deren Urlaub gesprochen. Wie intensiv, weiß man nicht. Aber wer Merkel kennt, kann sich gut vorstellen, wie sie ihrer Ministerin gesagt hat: Versuch’s halt mal. Kanzleramtschef Ronald Pofalla war über das U-Boot-Verfahren im Bilde.

Nicht im Bilde war die Junge Gruppe, obwohl die ein paar ausgewiesene Sozialexperten hat. Auch nur halb im Bild war die Fraktion. Wenn man von der Leyen fragen würde, warum nicht, bekäme man das bekannte Lächeln zur Antwort und die Versicherung, das sei der Betriebsblindheit einer Fachministerin geschuldet.

Man würde so eine nette Geschichte von der übereifrigen Ministerin ja gerne glauben. Nur leider ist inzwischen allgemein bekannt, wie das mit dem Brief an die Junge Gruppe abgelaufen ist. Der erste Adressat hat das Schreiben am Samstagabend um kurz nach 21 Uhr per Mail bekommen. Da war die Zeitung, die aus dem gleichen Schreiben die „Renten-Schock“- Schlagzeile destilliert hat, schon längst in Druck.

Die Einzelkämpferin Ursula von der Leyen kann nämlich kleine schmutzige Tricks. Manchmal funktionieren die. Diesmal sind sie nach hinten losgegangen. Als die Jungen das U-Boot stoppen, hilft ihnen dabei weniger ihre Sorge, dass da mal eben zulasten ihrer Generation eine neue Sozialleistung erfunden wird, als der Ärger über das Verfahren – diese Methode „Politik als Guerillaüberfall“. Alle fühlen sich überrumpelt oder tun zumindest so.

Statt einer Antwort lächelt sie nur

„Sie hat sich verzockt“, frohlockt einer ihrer Kritiker. Die Kanzlerin geht auf Distanz. „Die kommt nicht“, sagt ein grimmiger Pofalla, als in der Klausur der NRW-Bundestagsabgeordneten die Rede auf die Zuschussrente kommt. Kauder meldet Zweifel an den Zahlen an. Und die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt lässt sogar durchblicken, dass sie von der Leyens Rechenwerk für frisiert hält: „Das ist so“, sagt Hasselfeldt leise, als jemand sie fragt, ob das Problem mit der Altersarmut zwar existiere, aber vielleicht doch etwas kleiner sei als es die Ministerin ausmale?

„Die Zahlen stimmen“, beharrt von der Leyen nach dem Treffen mit den schwarzen Riesen. Sie wird das noch oft sagen in den folgenden Tagen, lächelnd, trotzig. Der Satz ist richtig und doch nicht. Die Zahlen stimmen – insofern als man ausrechnen kann, dass, wer als Maurer oder Verkäuferin oder Krankenschwester 35 Jahre lang aus 2500 Euro brutto in die Rentenkasse zahlt, an Rente genau die Grundsicherung bekommen würde. Nur arbeiten Maurer und Krankenschwestern viel länger als 35 Jahre. Auch andere Randbedingungen ändern sich. Das Beispiel beweist nicht, was es beweisen soll. Die Zahlen sind Kampfmittel.

Am Montag trifft sich das CDU-Präsidium. Von der Leyen hat am Wochenende wieder ein Interview gegeben. Es liest sich, als wäre nichts geschehen: „elementare Gerechtigkeitsfrage“, „klaffende Lücke im System der Rente“, und: „Niemand zweifelt die Rechnung an.“ War da was mit Merkels Kritik? „Ich respektiere, dass sie sagt: Wir müssen nicht nur das Gerechtigkeitsthema lösen, sondern die Diskussion weiterführen.“ Wahrscheinlich ist Ursula von der Leyen die Einzige im ganzen Kabinett, die sich so einen Satz auszusprechen traut, sich scheinbar unterordnet und in Wahrheit erhebt zur Interpretin in eigener Sache. Wahrscheinlich ist sie auch die Einzige, die psychologisch einem Konflikt mit der Chefin gewachsen wäre.

Ganz sicher ist sie die Einzige, die auf die Idee mit der Geiselnnahme kommt. Und die Erpressung funktioniert. Das CDU-Präsidium vereinbart keine Klassenkeile, sondern eine Sprachregelung. Man werde jetzt erst in der Union eine Lösung für das Problem suchen. Dann mit der FDP. Dann mit den anderen Parteien. „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“, predigt Generalsekretär Hermann Gröhe.

Es soll wie ein Plan klingen, souverän dazu. Dabei versuchen sie, bloß Zeit zu gewinnen. Die SPD hat gerade ihr Rentenkonzept vorgestellt. Es klingt dem der Frau Ministerin sehr ähnlich. Die CSU drängt, das gefährliche Thema abzuräumen. Die FDP tobt. Der liberale Jungstar Christian Lindner unterstellt von der Leyen sogar, dass sie auf Koalitionsbruch aus sei und auf eine große Koalition mit ihr selbst als Kanzlerin!

Von der Leyen, wenn man sie dazu befragte, würde jetzt vielleicht an ihren Satz erinnern, Bundeskanzler werde in jeder Politikergeneration immer nur einer.

Das ist an sich eine sehr kluge Erkenntnis. Nur hat wenig später jemand die 53-Jährige halb im Scherz gefragt, welcher Politikergeneration sie denn angehöre im Vergleich zur fünf Jahre älteren Kanzlerin. Und da hat sie dann doch der Versuchung nicht widerstehen können, statt einer Antwort bloß zu lächeln; aber diesmal ganz fein.

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