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Unbeliebter Nachbar: Immer weniger Polen zieht es nach Deutschland.

© pa/dpa

Zuwanderung: Nicht nur die Polen meiden Deutschland

Deutschland verzeichnete zuletzt mehr Zuzüge als Auswanderungen. Aus Sicht vieler Mittel- und Osteuropäer aber lohnt sich ein Leben in der Bundesrepublik nicht mehr.

84 Prozent mehr Griechen, fast doppelt so viele Spanier wie im Vorjahr – weil in ihren Heimatländern Schuldenmisere und Arbeitslosigkeit den Alltag bestimmen, ziehen immer mehr Südeuropäer nach Deutschland. Und nicht nur sie erhoffen sich davon bessere Perspektiven: Erstmals seit langem sind im vergangenen Jahr mehr Menschen in die Bundesrepublik eingewandert, als das Land verlassen haben, offenbart der kürzlich verabschiedete Migrationsbericht. Demnach suchten 798 282 Menschen ihr Glück in Deutschland.

Allein in den östlichen Nachbarländern können sich immer weniger Menschen für Deutschland als Arbeitgeber begeistern. „Es ist ein harter Job, hier in Breslau Personal für Deutschland zu finden“, sagt Agnieszka Schubert und rauft sich die Haare. Die Geschäftsführerin der Beratungsfirma „Significa“ kennt den deutschen wie den polnischen Arbeitsmarkt und vermittelt Experten auf beiden Seiten. Insbesondere Manager, Spezialisten aus dem IT-Bereich und gute Facharbeiter werden händeringend gesucht. „Das Lohnniveau ist aber so verschieden nicht mehr“, sagt Schubert. Ein paar Türen weiter logiert der Breslauer Stadtentwicklungsverband ARAW, der kräftig an der Attraktivität der niederschlesischen Metropole arbeitet. Rund 150.000 neue Arbeitsplätze haben Investoren aus dem In- und Ausland seit dem EU-Beitritt in Wroclaw (Breslau) geschaffen. Das macht Schuberts Personalsuche nicht einfacher.

Die Massenauswanderung von Osteuropäern nach Deutschland und Österreich hatten sich manche mit der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai erträumt – oder befürchtet. Doch die ersten Zahlen sechs Monate nach der Ostöffnung belegen das Gegenteil. Nur 19.800 Bürger aus den acht mittelosteuropäischen EU-Neumitgliedern (ohne Rumänien und Bulgarien) sind laut Sozialministerium in den sechs Monaten nach Österreich gekommen. Die meisten davon stammen aus den direkten Nachbarländern Ungarn, Tschechien, Slowakei und Slowenien. Noch weniger osteuropäische Arbeitnehmer wollten nach Deutschland. Laut Untersuchungen des Instituts für öffentliche Angelegenheiten wanderten dorthin in den ersten vier Monaten gerade einmal 22.000 Polen aus.

„Mit ihrer Siebenjahressperrfrist haben sich die Deutschen ein Eigentor geschossen“, findet Wojciech Sokolnicki von der Wirtschaftsuniversität Wroclaw. Statt Deutsch zu lernen, wie es sich so nah an der Grenze aufdrängen würde, hätten sich die Studierenden massenhaft vor allem für die Englischkurse eingeschrieben, erzählt der Leiter des Büros für internationale Zusammenarbeit. Großbritannien und Irland hatten ihren Arbeitsmarkt sofort nach dem EU-Beitritt der Osteuropäer geöffnet. Fast zwei Millionen Polen wanderten bis 2007 dorthin aus.

Ein Informatiker verdient in Wroclaw fast soviel wie in Deutschland

Doch seitdem hätten sich die Löhne angeglichen, sagt Sokolnicki. Die so sehr gesuchten Informatiker etwa verdienten heute in Wroclaw – kaufkraftbereinigt – fast gleich so viel wie in Deutschland.

Selbst unter Geisteswissenschaftlern, die oft weit schlechtere Berufsaussichten haben, ist die Option Auswanderung nur 150 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt nicht sehr attraktiv. Sie hätten alle an der Uni neben Englisch auch Deutsch gelernt, erzählen drei junge Archäologiestudenten in einer lauschigen Altstadtgasse vor dem Seminar. „Das lohnt sich doch nie, bei diesen Lebenshaltungskosten“, sagt der hochgewachsene 22-jährige Piotr Jakubaszko. Sein Studienfreund Jacek Milczerski lehnt weniger kategorisch ab: „Archäologen werden eh fast nirgends gesucht, ich würde eine gute Arbeit in Deutschland deshalb nicht ausschließen“, sagt er. Ein junger Ökonom einer Großbank erzählt, er schätze Deutschland und habe in Frankfurt an der Oder studiert, doch Arbeit gesucht habe er in Deutschland nie. Wroclaw mit seinen vielen internationalen Firmen biete bessere Chancen, davon ist er überzeugt. Wie als Beweis erzählt der knapp Dreißigjährige von dem Einfamilienhaus, das er sich gerade bauen lässt.

Nur 4,5 Prozent Arbeitslosigkeit herrschen in Wroclaw, etwa ein Drittel des effektiven Landesdurchschnitts. Dank ihrer guten Verkehrswege zieht die 630 000-Einwohner-Stadt täglich etwa 100.000 Pendler aus dem ärmeren niederschlesischen Umland an. Wroclaw hat sich vor allem in den USA und Korea einen Namen als attraktiver Investitionsstandort für die Fertigung von Elektronik sowie die Auslagerung von IT gemacht – IBM, HP, McKinsey und viele andere Firmen sind hier ansässig. Die Multinationals zahlen für polnische Verhältnisse gut. Umfragen belegen zudem, dass das Wissen über die sozialen Kosten der Emigration steigt. Viele junge Polen wollen zwar ins Ausland, aber nur für ein paar wenige Monate. Zum Pendeln sind Dresden (200 km), Berlin (340 km) und Wien (380 km) zu weit von Wroclaw entfernt.

Gegen Deutschland spricht auch die Tatsache, dass Löhne und Lebensqualität in den Niederlanden oder Skandinavien höher sind. Auch hören die Arbeitsmigranten dort weit weniger Polenwitze. „Wer nach Deutschland wollte, ist schon längst da“, sagen polnische Experten immer wieder. Die Breslauer Personalberaterin Angnieszka Schubert kann dies aus der Praxis bestätigen. „Es gibt deutsche Personalsuchaufträge, die ich schlichtweg ablehnen muss“, sagt sie. Manche Firmen würden gleich Dutzende von Experten auf einen Schlag anfordern. „Nach Deutschland gehe ich für keinen Job – es sei denn als Archäologe“, sagt der Student Piotr Jakubaszko.

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