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Zwischen Helden- und Verrätertum: Das Dilemma des Whistleblowers

Sie verraten Geheimnisse, weil sie das Richtige tun wollen. Dafür werden Whistleblower gefeiert und belohnt, aber auch gekündigt, gejagt und angeklagt. Miroslaw Strecker weiß, wie es sich lebt zwischen Helden- und Verrätertum. Er ließ einen Gammelfleisch-Ring auffliegen.

Von Julia Prosinger

Der Absturz der Concorde hätte verhindert werden können. Der Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall auch. „Wenn nur jemand den Mund aufgemacht hätte oder man auf jene, die sprachen, gehört hätte“, sagt Professor Johannes Ludwig, 64, Halbglatze, Dreitagebart, Plastikuhr am Arm, und zeigt an diesem Abend im Berliner „Haus der Demokratie“ die passenden Bilder zu den Katastrophen.

Die Toten vom 11. September, die Zerquetschten bei der Love Parade in Duisburg, die Morde der NSU, der Missbrauch an der Odenwaldschule. „Aber weil das niemand tat, ist es so, wie es ist.“ Professor Ludwig senkt seine Stimme selten am Ende eines Satzes, er hebt sie an zu neuen Beispielen. Er hätte so viele mehr. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich mit „Whistleblowern“. Sie waren seine Informanten, als Ludwig in den 80er Jahren investigativer Journalist war. Damals deckte er für den „Stern“ Bauskandale auf. Die Schicksale seiner Informanten berührten ihn. Vor ein paar Jahren gründete er deshalb das Whistleblower-Netzwerk, einen Verein, und mit seinen Medienstudenten aus Hamburg macht er ihre Fälle öffentlich.

Seit der junge Gefreite Bradley Manning geheime Dokumente über Wikileaks veröffentliche und spätestens seit Edward Snowden das Ausmaß der amerikanischen Überwachung offenlegte, ist Ludwig ein gefragter Redner.

„Sie decken auf, bevor etwas zu spät ist.“

Weil er, atemlos, erklären kann, was Whistleblower tun. „Sie decken auf, bevor etwas zu spät ist.“ Das kann Leben retten oder die Umwelt, es kann schwerwiegende Folgen verhindern. Sie schlagen Alarm oder, wie er gern niederländisch sagt: Sie sind Klokkenluider. Glockenläuter. Oft glaubt ihnen niemand, und fast immer werden sie gemobbt, gekündigt, gejagt wie Snowden und verurteilt wie Manning. 35 Jahre Gefängnisstrafe hat Letzterer gerade bekommen.

Viele brechen darunter zusammen. „Es gibt nur wenige Ausnahmen, die das gut überstehen.“ Einer ist Miroslaw Strecker.

Strecker, 55, wohnt in Brandenburg, Werchow bei Calau, ein paar Schritte über Kies, die gefleckte Katze aufgescheucht, dann sitzt er einem am Esstisch gegenüber, in Jeans mit vielen Taschen, blaue wache Augen hinter randloser Brille, den Arm auf eine Stuhllehne gelegt, in der Hand dreht er den Autoschlüssel.

„Man“, sagt Strecker mit einer tiefen, weichen Stimme, wenn er von sich erzählt, nicht „ich“. Professor Ludwig sagt immer: „Wegschauen ist leichter als hinschauen.“ Für Strecker war hinschauen selbstverständlich.

Gammelware - nicht zum Verzehr geeignet

Es ist ein heißer Julitag im Jahr 2007, Miro Strecker fährt in seinem Lkw von Hamburg nach Wertingen in Bayern. Vorn, bei sich in der Kabine hat er es gern sauber, seine Söhne sollen dort nicht mit Chips krümeln, Polizisten sollen die Schuhe ausziehen, bevor sie seine Teppiche betreten. Er mag die Ruhe beim Fahren drinnen, draußen den Hauch von Abenteuer, fremde Länder, nachts Radio hören.

Hinten hat er an diesem Tag Gammelware geladen. 13 Paletten, 11,5 Tonnen, K3-Fleisch, nicht zum Verzehr geeignet, steht auf den Verladepapieren.

Hätte Strecker aber auch so kapiert. Er war ja schließlich mal Fleischer, in der DDR, weil das mit der Ausbildung zum Koch nicht hingehauen hatte. Das war lange, bevor er 1989 über Warschau in den Westen geflohen ist. Er wollte sich nicht mehr vorschreiben lassen, was er sagen muss, er mochte die Floskeln bei seiner ehrenamtlichen Arbeit als Fahrlehrer nicht: „Bestehen Sie den Führerschein, um den Sozialismus zu unterstützen.“

Strecker erreicht Wertingen in Bayern, schon von Weitem sieht er das Schild, Fleisch- und Wurstwaren. Er hat gefrorene Rinderaugen, vier Jahre alte Hammelleber aus Neuseeland, verdorbene Fleischlappen geladen. Maximal noch gut für Tierfutter – doch hier werden Lebensmittel verarbeitet.

Strecker sieht keine Arbeiter, obwohl es ein normaler Freitag ist, nur den Chef, der, kaum dass Strecker geparkt hat, Ware ablädt. Das machen Lkw-Fahrer normalerweise allein. Er sieht den Chef die Etiketten von den Paletten reißen und sie sich eilig in seine Hosentasche stopfen.

Manche Werte sind wichtiger als andere

„Es ist mir egal, wenn ein Dieb den anderen betrügt“, sagt Strecker. Aber der Chef auf dem Hof spielte mit der Gesundheit anderer Menschen.

„Whistleblower sind sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Möglichkeiten, einen Skandal publik zu machen“, sagt Professor Ludwig. „Aber sie alle hadern mit sich.“

Strecker fährt den Lkw vom Hof. In seinem Vertrag steht, dass er über die Fracht und den Kunden nicht sprechen darf, Betriebsgeheimnis, er hat Loyalitätspflicht.

In der Antike wurden Verräter von einem Felsen in die Unterwelt gestürzt, die Bibel schlägt Steinigung vor, Judas, der Jesus für 30 Silberlinge auslieferte, wurde vom Abendmahltisch und aus der Gesellschaft verstoßen.

Strecker könnte gekündigt werden, vielleicht bestraft. „Ich hätte sagen können, das ist mir egal, was die Bayern essen.“ Aber manche Werte sind eben wichtiger als andere.

„Verräter“, sagt Professor Ludwig, „wollen jemandem Schaden, sich selbst Vorteile verschaffen. Whistleblower wollen andere schützen und gehen dabei ein Risiko ein.“

Des einen Helden ist oft des anderen Verräter. Ludwig spricht von Bradley Manning. „Er hat auf Kriegsverbrechen aufmerksam gemacht und der Öffentlichkeit klargemacht, dass dieser Krieg nicht gewonnen werden kann.“ Bei Kriegsverbrechen gilt vieles nicht mehr, was immer galt, Immunität von Staatsoberhäuptern beispielsweise. Dem Enthüller Snowden hätte Ludwig sofort bei sich daheim Asyl gewährt.

„Was ist nur los mit Barack Obama?“ 2008 habe der noch angekündigt, Whistleblower schützen zu wollen. Nun würden sie so hart bestraft wie nie zuvor.

Strecker denkt nicht an Kriegsverbrechen, hoch oben auf seinem Fahrersitz. Er weiß nur einfach nicht, an wen er sich wenden soll mit seiner Information. Er ruft die Polizei an, 110, solange er noch in Bayern ist. „Wir sind nicht zuständig.“ Auch die Industrie- und Handelskammer, desinteressiert. Er ruft die Gewerbeaufsicht an, die hört zu und deckt in der Folge einen riesigen Skandal auf: Eine italienische Firma hatte mit einer eingespielten Lieferkette deutsches Recht umgangen, Fleisch scheinbar aus- und eingefahren und schließlich hunderte Tonnen Gammelfleisch an Berliner Dönerbuden verkauft.

Seiner Frau sagt Strecker erst Bescheid, als die Nachricht schon auf allen Kanälen läuft. „Du, ich hab da so ’nen Knaben angeschissen.“

Dann beginnen die Zeitungen, Miro Strecker aus Brandenburg, geboren in Polen, die Mutter Verkäuferin, der Vater Lkw-Fahrer, einen Helden zu nennen. Weil er sich in den Dienst einer Sache gestellt hat, die ihn nicht direkt betroffen hat.

Strecker mag das Wort nicht. Feuerwehrmänner, Gefallene im Krieg, Leute, die Leid ertragen, Übermenschliches leisten, Prüfungen bestehen, das sind Helden.

„Snowden und Manning sind Helden, weil sie wussten, was auf sie zukommt und es trotzdem taten. Ich konnte doch nicht ahnen, was das für Kreise zieht.“

Strecker lacht. In der Schule hat er mal geschummelt, als kleiner Junge hat er sich gerauft, den Müll bringt nicht er, sondern seine Frau raus, die kocht auch jedes Abendessen. Er ist schnell genervt vom Smalltalk bei den Schwiegereltern oder von Krankengeschichten alter Leute, er liest nicht gern Zeitung, geht nicht wählen, nicht in die Kirche, er raucht zu viel. Seine größte Rebellion waren ein paar Tätowierungen, selbst gemacht mit Tusche, und, dass er das Tuch der Pioniere am Arm statt am Hals getragen hat. Er hat einen Teil der Kindheit seiner Söhne verpasst, weil er immer Lkw gefahren ist, einer sagte mal, als der Vater ungewohnt lange daheim war: „Schön, dass du jetzt wieder fährst.“ Und ja, er hat sogar schon falsch etikettiertes Fleisch transportiert, ohne etwas zu sagen.

Deutschland unternimmt wenig, um Whistleblower zu schützen

Die Kreise, von denen Strecker spricht, zogen sich, als er das erste Mal krank wurde. Kündige, riet ihm seine Firma. „Da könnt ihr lange warten“, sagte Strecker. Er kann sie ja verstehen, jetzt, viele Jahre später. „Jedes Unternehmen hat Leichen im Keller. Die Kunden hatten Angst, dass ich wieder etwas aufdecke.“

Seine Chefs teilten ihn künftig für die schweren Touren ein, viele Ladestopps, hoch gestapelte Paletten. Die sollte er nicht heben, hat der Arzt nach einer Schulteroperation gesagt. Seine Chefs wussten das. „Man wollte mich kaputtspielen“, sagt Strecker.

2011 kündigte seine Firma ihm, betriebsbedingt. Er kämpfte vor Gericht, erstritt eine Abfindung. Sein Haus in Calau hatte er gerade erst gekauft. „Man konnte ja nicht mit so was rechnen.“

Verpfeifer, Petze, Nestbeschmutzer

In anderen Ländern wäre ihm das nicht so leicht passiert. Deutschland, erklärt Professor Ludwig in langen Sätzen seinem Berliner Publikum, bilde das Schlusslicht beim Whistleblower-Schutz. Das bestätigen auch Studien von Transparency International, der Organisation gegen Korruption.

„Wir sind obrigkeitshörig, wer bei uns helfen will, ist ein Denunziant“, sagt Ludwig. Ein Verpfeifer, eine Petze, ein Nestbeschmutzer. Das Arbeitsrecht stamme in seinen Grundsätzen eben noch aus der Zeit des Dritten Reiches.

In den USA sind Whistleblower je nach Branche geschützt. Es sei denn, Ludwig lacht bitter, es gehe um Militär und Sicherheit. In Großbritannien sind seit einer Unglücksserie 1998 – eine Fähre war gesunken, ein Zug entgleist, eine Bankfiliale zusammengebrochen – Enthüllungen im öffentlichen Interesse gewünscht. Wer dem Prozedere folgt, kann nicht gekündigt werden und erhält Schadensersatz, sollte er gemobbt werden.

In Deutschland gab es diese Versuche auch. Eine bayerische SPD-Bundestagsabgeordnete schlug ein Modell vor, wonach Whistleblower wie Strecker nicht benachteiligt werden dürfen. Wenn doch, muss das Unternehmen ein Bußgeld zahlen.

"Wir brauchen einen Kulturwandel"

In einigen Bundesländern existiert bei den Landeskriminalämtern ein anonymes elektronisches „Hinweisgebersystem“. Beamte dürfen sich  – aber nur bei Korruption – an eine spezielle Stelle wenden. Es gibt ein Maßregelungsverbot im Bürgerlichen Gesetzbuch, aber bislang keine Urteile dazu. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch, die im Berliner Vivantes-Klinikum Missstände aufgedeckt hatte, das Recht auf freie Meinungsäußerung zwar über die Loyalitätspflicht zum Arbeitgeber gestellt. Die deutschen Richter folgen der Entscheidung aber bislang nicht.

„Zarte Ansätze“, nennt Professor Ludwig das alles. „Die derzeitige Regierung hält nichts vom Whistleblowing.“

Er wünscht sich ein Gesetz, bei dem der Glockenläuter selbst entscheiden kann, ob er sich intern äußert oder extern. „Er, und nur er, kann die Situation einschätzen“, sagt Ludwig.

„Wir brauchen einen Kulturwandel.“ Ludwig holt Luft und erzählt nun von deutschen Firmen, die intern zum Whistleblowing ermutigen. „Die haben verstanden, dass es besser ist, wenn dem Mechaniker vorm Einschlafen einfällt, dass die Schrauben des Flugzeugs nicht fest sitzen, und man die Maschine noch stoppen kann.“ Ein Risikomanagement, das weit weniger kostet als der Image- und finanzielle Schaden nach einer Katastrophe.

Strecker überbrückte die Zeit als Arbeitsloser mit dem Preisgeld von vier Couragepreisen. „Für einen habe ich 10 000 Euro bekommen. Das kann man doch sagen. Für den Auftritt bei Jauch 500.“ Die Leute im Ort denken, er sei reich geworden, müsse nie wieder arbeiten. Der bayerische Gammelfleischhändler wurde 2011 verurteilt.

Nach einem Aufruf von Antenne Bayern stellte ein mittelständischer Betrieb Strecker als Fahrer ein. „Um für sich zu werben! Wie sozial er doch sei. Sobald es ging, hat er mich wieder gekündigt.“

Wenn Strecker als kleiner Junge krank war, nannten ihn die Eltern Stehaufmännchen. Er braucht keine psychologische Behandlung wie die meisten in seiner Situation. Die sich verfolgt fühlen, in ihrem Fall leben, riesige Aktenstapel anschleppen, wenn Sie Professor Ludwig treffen.

Strecker fährt jetzt Reisebus, Sieben-Flüsse-Tour und so. Er verdient 35 Prozent weniger als früher, seine Frau hat zwei Jobs, als Sachbearbeiterin und in einer Spielhalle. Er vermisst die Ruhe in seinem Lkw. Dafür fährt er jetzt viel durch Innenstädte. Den weißen Mittelstreifen auf der Autobahn konnte er ohnehin nicht mehr sehen.

Erschienen auf der Dritten-Seite.

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