zum Hauptinhalt

Politik: Zwischen Sühne und Schikane

Von Gerd Nowakowski

Unverantwortlich – so nennt es Klaus Lange-Lehngut. Der Mann weiß, wovon er spricht. Er leitet seit 25 Jahren in Berlin-Tegel die größte deutsche Haftanstalt. So redet nur einer, der kurz vor der Pensionierung steht. Was jetzt über Berlins Gefängnisse bekannt wird, schockiert. Zu lange ist über Haftanstalten geschwiegen worden; jetzt erfährt die Stadt von illegalem Medikamentenhandel, Tod hinter Gittern und einer unzureichenden medizinischen Versorgung. Wie viel Menschenrecht gilt in der Zelle, ja, auch dort, das ist die Frage. Und denke niemand, nur in Berlin gebe es Missstände in der Haft.

Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue, erst kurz im Amt, hat ihren Staatssekretär Christoph Flügge nach Bekanntwerden der Medikamentenaffäre gefeuert. Sie wurde dafür kritisiert, Konsequenzen zu ziehen, bevor überhaupt aufgeklärt ist, wie es möglich war, dass in der Haftanstalt Moabit bestellte Medikamente jahrelang nie bei den Gefangenen ankamen, sondern Justizangehörige damit möglicherweise Handel trieben. Das mag Parteipolitikern als unklug erscheinen. Wenn die Justizsenatorin auf Fehler so schnell mit harter Hand reagiert, dann muss sie gewahr sein, dass dieser Maßstab künftig auch für sie selbst gilt.

Wer raunt, hier habe die Senatorin die erstbeste Gelegenheit genutzt, einen ungeliebten und machtbewussten Behördenchef zu entlassen, greift zu kurz. Es geht nicht um den Posten, es geht um einen Skandal, vor allem aber um eine menschenwürdige Behandlung hinter Gittern. Von der Aue hat rasch gehandelt, aber war es falsch? Schließlich beaufsichtigte Staatssekretär Flügge seit vielen Jahren Berlins Haftanstalten – wer, wenn nicht er, wäre verantwortlich zu machen für die bedrückenden Verhältnisse dort.

Berlins Haftanstalten sind dramatisch überbelegt, Häftlinge müssen sich mit anderen Gefangenen Zellen ohne abgetrennte Toilette teilen. Berlins höchstes Gericht hat das als Verstoß gegen die Menschenrechte beurteilt. Ohne Folgen. Im vergangenen Jahr hat es in Berlin zehn Selbstmorde hinter Gittern gegeben. Die Reaktion der Justizverwaltung: Über Suizide wurde nicht mehr informiert. Immer wieder haben Gefangene über haarsträubende Zustände, Schikanen, unzureichende Arbeitsmöglichkeiten, fehlende Therapieangebote und eine ungenügende Vorbereitung auf die Zeit danach berichtet.

Im Film „Brubaker“ ließ sich Robert Redford in ein berüchtigtes Gefängnis einschließen, um Missstände aufzudecken. In Berlin ist das nicht nötig: Die skandalösen Verhältnisse in den maroden Haftanstalten, die zu wenig Personal haben, sind lange bekannt. Sie sind auch Ergebnis der Berliner Sparzwänge. Auch wenn es nur einige tausend Menschen sind, die – ja, selbst verschuldet – so leben müssen: Im Strafvollzug spiegeln sich die Bereitschaft und die Fähigkeit einer demokratischen Gesellschaft, zwischen Sühne und Schikane zu wägen.

Den Willen, die Bedingungen zu bessern, lässt Berlins Landesregierung vermissen. Die Gefängnisse drohen, zu brutalen Verwahranstalten zu werden, bei denen jeder Gedanke an Resozialisierung untergehen muss. Dabei ist Strafvollzug die zweite Säule der Kriminalitätsbekämpfung. Menschen neue Lebenschancen zu eröffnen, kann unter diesen Bedingungen nicht gelingen. Senatorin von der Aue hat als Präsidentin des Brandenburger Rechnungshofes bewiesen, dass sie hartem Streit nicht aus den Weg geht. Wer die Messlatte hoch legt, wird daran gemessen. Haftanstalten sind jetzt Chefsache.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false