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Brandenburg: Scharfe Kritik der Opposition am Verbleib Bräutigams im Amt

POTSDAM .Das Verbleiben von Justizminister Hans Otto Bräutigam (parteilos) im Amt hat eine scharfe politische Kontroverse ausgelöst.

POTSDAM .Das Verbleiben von Justizminister Hans Otto Bräutigam (parteilos) im Amt hat eine scharfe politische Kontroverse ausgelöst.CDU-Generalsekretär Thomas Lunacek sagte, die Ablehnung des Entlassungsgesuches Bräutigams durch Stolpe stehe "in der Tradition, Skandale zu decken".FDP-Chef Hinrich Enderlein warf Stolpe vor, "den Schmuddelkurs in Sachen politischer Kultur" fortzusetzen.Die SPD zeigte sich von Bräutigams Entscheidung "erleichtert".Bräutigam selbst räumte mangelnde Konsequenz ein.Bitten Stolpes, des Kabinetts und der SPD, aber auch Solidaritätsbekundungen aus der Bevölkerung hätten ihn bewogen, im Amt zu bleiben.Unterdessen ist der Leiter der Potsdamer Justizvollzugsanstalt, aus der der Russe Serow am Samstag abend unter ungeklärten Umständen geflohen war, vom Dienst suspendiert worden.

Zu den Umständen der Flucht ist Bräutigam gestern erneut vom Rechts- und Innenausschuß des Landtages angehört worden.Nach wie vor konnte der Justizminister die Frage nicht beantworten, wie sich Serow seinen Fluchtweg bahnen konnte und warum er auch dann noch als Hausarbeiter eingesetzt wurde, als er unter Fluchtverdacht geriet.Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion, Dierk Homeyer, bezeichnete das Ergebnis der Anhörung als "äußerst unbefriedigend".Bräutigam habe Fragen zur Struktur und Organisation der Potsdamer Justizvollzugsanstalt nicht beantwortet.Homeyer forderte die regierende SPD auf, die Untersuchung der Umstände der Flucht und der skandalösen Zustände in der Justizvollzugsanstalt Potsdam nicht zu behindern.Bräutigam versprach erneut, daß er für rückhaltlose Aufklärung sorgen werde.Vor der Anhörung räumte er ein, daß es ihm schwergefallen sei, im Amt zu bleiben.Zahlreiche Appelle, weiterzumachen, hätten ihn aber in seinem Entschluß bestärkt.Er räumte jedoch ein, daß es konsequent gewesen wäre, auf Entlassung zu bestehen.Nachdem er sich entschieden habe, sei das Thema Rücktritt für ihn aber vom Tisch.Er werde bis zum Ende der Legislaturperiode Minister bleiben.

Der drei Tage nach Bekanntwerden seiner spektakulären Flucht in Berlin festgenommene mutmaßliche Hintze-Entführer bleibt vorerst in Berlin in Haft.Das bestätigte die Berliner Justizsprecherin Svenja Schröder.Bräutigam wollte sich zu den Gründen im Brandenburger Landtag nicht näher äußern.Es sei Sache der Justiz, zu entscheiden, wo er verwahrt werde.Das Verfahren laufe jedoch in Potsdam.In Justizkreisen hieß es, daß Serow nicht nach Potsdam zurückgebracht werden könne, solange dort die Untersuchungen über die Hintergründe der Flucht andauerten und nicht geklärt sei, ob er in der Haftanstalt Helfer hatte.Serow selbst soll bisher die Aussage verweigert haben.

Die PDS sagte zu der Entscheidung Bräutigams, im Amt zu bleiben, man nehme sie zur Kenntnis und erwarte weitreichende Schlußfolgerungen, die dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung künftig besser Rechnung tragen.Während CDU und FDP von einem taktischen Manöver Stolpes sprachen, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Wolfgang Klein: Da er seine Entlassung angeboten habe, gehe Bräutigam aus der Affäre gestärkt hervor.Die Attacken der CDU gegen Stolpe würden beim Wähler keinen Widerhall finden."Das Kräfteverhältnis im Land ist klar." Gleichwohl wird die Affäre auf der kommenden Landtagssitzung ein Nachspiel haben.Die Oppositionsparteien bereiten eine Reihe von Anfragen und Anträgen vor.Wann Bräutigam einen Abschlußbericht vorlegt, ist noch völlig offen.

Elektrodrähte abgeschafft

BERLIN (tob).Im Vergleich mit den anderen neuen Ländern liegt Brandenburg mit 132 ausgebrochenen Untersuchungshäftlingen und Straftätern seit 1991 etwa im Mittelfeld, wenn man die Zahl der Geflüchteten mit der der Haftplätze vergleicht.Die Mark hat zwar absolut die höchste Zahl an Geflüchteten, nach Sachsen aber die meisten Gefängnisbetten.Thüringen hatte die wenigsten Ausbrüche, in den vergangenen drei Jahren entwichen überhaupt keine Häftlinge mehr.

Die ostdeutschen Justizvollzugsanstalten verzeichneten nach der Wende eine Ausbruchswelle.Den Grund dafür sieht Katja Surminski, Sprecherin des Mecklenburg-Vorpommerischen Justizministeriums, das zur Zeit der Justizministerkonferenz vorsteht, im damals schlechten baulichen Zustand der Gefängnisse und der mangelhaften Ausbildung des Personals.Nach der Wende wurden zudem unmenschliche Sicherungsanlagen des DDR-Strafvollzugs entfernt: Elektrodrähte und Hundelaufgräben.

KOMMENTAR

Rücktritt vom Rücktritt

Justizminister Hans Otto Bräutigam hätte sich sein Entlassungsgesuch sparen können: Von vornherein war klar, daß Ministerpräsident Manfred Stolpe - nicht gerade mit herausragenden Köpfen in seinem Kabinett gesegnet - es nicht annehmen würde.Bräutigam ist nicht irgendein Minister, sondern wichtigste Vertrauensperson Stolpes und vielleicht auch so etwas wie die graue Eminenz im Kabinett.In jedem Fall ist er der inoffizielle Berater des Regierungschefs.Wenn wirklich jemand Zugang zu Stolpe hat, wenn es jemanden gibt, auf den der Regierungschef hört, dann ist es der untadelige und welterfahrene Diplomat alter Schule.

Die hohe Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit.Undenkbar, daß jemals ein kritisches Wort zu Stolpe über Bräutigams Lippen kommen könnte.Beide kennen sich noch aus der Zeit, als Bräutigam Bonns Ständiger Vertreter in Ost-Berlin war.Als Stolpe heftigen Angriffen wegen seiner Stasi-Kontakte ausgesetzt war und manche Kabinettskollegen leise zweifelten, ob der Ministerpräsident politisch überleben werde, tat sich Bräutigam unbeirrt als Verteidiger hervor.So stand denn auch von vornherein fest, daß Bräutigam die Bitte seines Chefs, im Amt zu bleiben, nicht ausschlagen würde.Man muß nicht das SPD-Mitgliedsbuch haben, um Parteisoldat zu sein.

Allerdings muß die Frage erlaubt sein, was die fiktive Rücktrittsinszenierung dann eigentlich sollte.Keineswegs nur in CDU-Kreisen wurde gestern die Vermutung geäußert, daß es sich um ein "abgekartetes Spiel" und taktisches Manöver gehandelt habe, um den schwer angeschlagenen Justizminister und damit auch die Regierung aus der Schußlinie zu bringen.Bräutigam persönlich hat eingeräumt, seinen Schritt vorher mit Stolpe erörtert zu haben.

Zwar bestreitet der Minister, daß taktisches Kalkül mit im Spiel gewesen sei.Wer ihn kennt und in den letzten Tagen erlebt hat, wird ihm das sogar abnehmen.Der bisher größte Justizskandal Brandenburgs hat Bräutigam schwer getroffen, die Übernahme der politischen Verantwortung ist für ihn, einen Mann mit politischer Kultur, nicht nur eine Phrase.Bräutigam wollte persönliche Konsequenzen ziehen, doch hat er den Argumenten des Taktikers Stolpe nachgegeben, für den natürlich nicht nur das enge Verhältnis zu Bräutigam eine Rolle spielt.Dem Regierungschef sind "geordnete politische Verhältnisse" das wichtigste, erst recht neun Monate vor der Landtgswahl.Hinzu kommt, daß ein Nachfolger weit und breit nicht in Sicht ist, schon gar keiner, der so großes Ansehen wie Bräutigam genießt.So setzt Stolpe darauf, daß sich die Wogen bald wieder beruhigen werden.

Die Rechnung dürfte auch aufgehen.Die Brandenburger werden Stolpe auch diesen Skandal und die geschickt inszenierte Rücktritts-Nummer verzeihen, das zeigen die Erfahrungen mit dem Finanzchaos im Hildebrandt-Ministerium: Die harsche öffentliche Kritik brachte der SPD-Politikerin sogar Pluspunkte in der Wählergunst ein.Auch Bräutigam ist im Land hoch angesehen.In der SPD geht man davon aus, daß er der SPD bei der Wahl noch Stimmen bringen werde.Die verheerende Außenwirkung nimmt der über den Dingen schwebende Stolpe in Kauf.Er und die SPD haben schon bisher beim Umgang mit diversen Politiker-Affären eine besondere Form der politischen Hygiene gepflegt: Sie wurden beschönigt und ausgessessen, unfähige Minister und Staatssekretäre in Ehren entlassen.Jetzt ist eine ganz neue Variante hinzugekommen: der fiktive Rücktritt. MICHAEL MARA

MICHAEL MARA

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