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Brandenburg: Skulpturen aus der Fliederhecke

Der 82-jährige Gerhard Dittken schnitzt Geschöpfe, die das Weltall zu umarmen scheinen

Hohen Neuendorf - Winterschwarz ist die Fliederhecke vor der rosa Abenddämmerung. Aber Gerhard Dittken blickt begeistert darauf, als stünde sie in voller Blüte. „Schauen Sie nur mal die Zweige“, sagt er. „Da ist eine Figur, und da noch eine.“ Vor seinem inneren Auge wird die Hecke zum Skulpturengarten. Was aus den Zweigen werden kann, ist in seinem Keller zu sehen: charismatische Figuren mit himmelwärts gestreckten Händen, viele in Schwarz und Weiß gehalten. „Weil jeder Mensch Licht und Schatten hat“, erklärt er. „Auch gute Menschen haben schwarze Flecken und schlechte Menschen gute Seiten.“

Manche seiner Figuren, die er aus dickeren Ästen oder gar Stämmen geschnitzt hat, sehen aus wie biblische Archetypen: die Flüchtlingsfrau mit dem Kind auf dem Arm. Er hat Eva mit der Schlange geschnitzt und einige Madonnenfiguren. Krippen nur für den Hausgebrauch. „Das können die in Bayern und Österreich besser“, sagt Dittken mit leiser Stimme. Der 82-Jährige aus Hohen Neuendorf ist kein Mann der großen Töne. Über die Jahre hat er einige Ausstellungen gehabt in der Gegend, mal im Rathaus, mal in einer Galerie, zuletzt in einer Kirche. Es gibt einige Liebhaber seiner Kunst, die immer wiederkommen und neue Stücke kaufen, wenn sie ihn einmal entdeckt haben. Er mag sich nicht mal als Künstler sehen, weil er kein entsprechendes Zertifikat besitzt. „Ich habe nicht studiert, habe keinen Abschluss. Das ist nur ein Hobby.“ Dieses Hobby sieht eher nach einer Berufung aus, auch wenn er seine Berufsjahre als Gütekontrolleur bei einem Unternehmen für medizinische Elektrogeräte verbracht hat.

Oben im Wohnzimmer des Hauses, das sein Vater einst erbaut hat und in dem er seit 71 Jahren lebt, breitet er seine Anfänge aus. Es sind drei kleine Skulpturen: eine hölzerne Tabakdose mit der Aufschrift Leningrad 1944 bis 48, ein kniendes Mädchen, eine Mutter mit Kind. Nur ein Jahr, bevor der Krieg zu Ende ging, geriet er in russische Gefangenschaft. Fünf Jahre musste er bleiben, ein Jahr länger, als er eigentlich gedacht hatte. Ein Österreicher, der vor ihm entlassen wurde, gab ihm Werkzeug und einige Tipps. Er begann mit dem Schnitzen, um nicht verrückt zu werden.

Er überlebte, hinterließ der Lagerleitung zum Abschied ein handgefertigtes Schachspiel. 1954 heiratete er Frau Irma, und die beiden bekamen zwei Kinder. Erst seit er 1983 Rentner wurde, widmet er sich ganz dem Schnitzen. Seitdem fließen die Ideen nur so aus ihm heraus. Bei Spaziergängen oder S-BahnFahrten, manchmal bei der Zeitungslektüre. Seine Figuren begegnen ihm überall. Er kann jedes Stück Holz so formen, dass es entweder eine menschliche Figur oder ein Tier wird.

Viele seiner Werke sind aus Lindenholz, andere aus Birke, auch eine Weide im Garten liefert ihm Stoff. „Anliegende Arme sieht man so oft“, erklärt er seine Vorliebe für die weit ausgestreckten Arme, mit denen seine Geschöpfe das Weltall zu umfassen scheinen. Auf die Frage, wer sein Vorbild ist, antwortet er prompt: Ernst Barlach. Die Skulpturen des 1938 verstorbenen Künstlers drückten immer wieder das Spannungsfeld des Menschen zwischen Erdgebundenheit und Spiritualität aus.

Dittken wollte nie abhängig sein von Käufern, vom Geschmack des breiten Publikums. Freiheit war ihm immer wichtig, besonders in der Kunst. Unten im Flur steht eine große Figur mit nach oben geöffneten Händen und einem ausgeglichenen Lächeln. Die hat er „Lebensfreude“ genannt. Sonst gibt er seinen Figuren keine Namen. Doch es gibt noch eine weitere Ausnahme von dieser Regel, eine Vierergruppe. „Frühling“ heißt das zarte Mädchen. „Sommer“ der kraftstrotzende Jüngling, „Herbst“ die schon verblühte Frau und „Winter“ der gebeugte, alte Mann. Er dunkelt nach, ist fast schwarz. So wie die Fliederhecke im Garten, aus der immer noch neue Kunstwerke entstehen.

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