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Bolt

© dpa

100-Meter-Sprint: Über Bolts Leistung staunen auch Wissenschaftler

Er läuft mehr als zwei Zehntelsekunden schneller als Ben Johnson 1988 – und der war gedopt. Ob Usain Bolts Talent dafür wirklich ausreicht?

Dieser Lauf kam über die Bahn wie ein Naturschauspiel. Mit seiner Geschwindigkeit hat Usain Bolt das Publikum berauscht, mit seinem Laufstil hat er es verzückt. Und Neunkommafünfacht, eine Zahl, die sich ziemlich krumm anhört, nach Wahlergebnis einer Oppositionspartei, wirkt auf einmal wahnsinnig erotisch.

Dieser kurze Lauf könnte ein lang anhaltendes Gefühl hinterlassen, ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Ein Mensch kann durch die Schallmauer laufen. Auf wunderschöne Weise. Ein Mensch hält sich einfach nicht daran, dass etwas unmöglich erscheint. Diesen Weltmeisterschaften und ihrem Publikum hat Usain Bolt ein Ereignis geschenkt, das die Welt noch nicht gesehen hat. In Peking noch, bei den Olympischen Spielen, hatte Bolt die Zuschauer ein paar Meter darauf vorbereitet, dass die Uhr gleich bei einer unglaublichen Zeit stehen bleiben würde, indem er sich vor dem Ziel nach seinen Gegnern umschaute, die Arme zum Jubeln ausbreitete. Damit konnte er ein bisschen ablenken von seiner neuen Rekordzeit von 9,69 Sekunden. Diesmal führte er einfach sein Rennen aus, und seine englische Beschreibung dafür – „execute“ – gibt das vielleicht noch besser wieder als irgendeine Übersetzung.

Je nach Gemütslage ließen sich die Zuschauer von der Siegerzeit auf der Anzeigetafel schocken oder sich von ihr einen angenehm gruseligen Schauer über den Rücken jagen. Dabei gewesen. Mit eigenen Augen gesehen. Mitgefeiert. Gespeichert unter: außergewöhnliche Erinnerungen.

Vergessen, dass Bolt kurz vor seinem Rennen sogar im Weg stand. Dass er noch nicht dran sein sollte, weil der 100-Meter-Lauf die Ehrenrunde der Siebenkämpferinnen und der Kugelstoßerin Nadine Kleinert unterbrach, Zuschauer pfiffen, sie wollten lieber noch eine Weile die deutschen Silbermedaillengewinnerinnen sehen. Wenige Sekunden später hatte Bolt sie wieder in seinen Bann gezogen. Mit einem Lächeln vor dem Start, mit ein paar Tanzschritten. Hier hat einer seinen Spaß.

Doping war nicht zu sehen am Sonntagabend im Berliner Olympiastadion, weil Doping unsichtbar ist. Aber kann man sich Usain Bolt wirklich vorstellen in einem fensterlosen Raum mit Neonröhre an der Decke und neben ihm ein Arzt, der ihm aufbereitetes Blut spritzt? Und selbst wenn es so gewesen sein sollte – die Ästhetik seines Laufs, das Geschmeidige, Runde, Rollende, dafür gibt es kein Medikament. Das ist Bolt selbst.

Was Laufen Bolt bedeutet, und Bolt fürs Laufen, das ist mit bloßem, ungeschulten Auge zu erkennen. Seine Schritte behandeln die Bahn nicht wie fremden, feindlichen Boden, dem es zu entkommen gilt, bevor er noch heiß wird oder sich auftut oder zur Stolperfalle wird. Sie gleiten über ihn hinüber wie über einen vertrauten Weg.

Das Schwärmen über außergewöhnliche Leistungen scheint auf einmal zurück in der Leichtathletik zu sein. Das „Ja“ ist laut, das „aber“ leise, fast nicht zu hören. In Peking herrschte noch der Zweifel, der Verstand wollte die Oberhand behalten, was nicht zu begreifen ist, sollte auch nicht zum Gefühl werden. Bolt war nicht der Gipfel. Er war gemeinsam mit Schwimmer Michael Phelps eher ein Tiefpunkt, auf den der Sport gesunken zu sein schien nach Ben Johnson, Balco, Tour de France.

Reißen jetzt die Gefühle auf einmal alles wieder mit sich nach oben? Nach dem Verdruss über Doping erscheint es, als könne fürs Erste tatsächlich ein Genießenwollen von Leistungen die Oberhand behalten. Selbst von einem Rekord, der früher unkritisch Fabelzeit genannt worden wäre. Und selbst von einem Sieg, der noch unmöglicher scheint als alles bisher Angezweifelte.

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