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100 Tage vor Olympia: London im Schatten des Dingsbums

In 100 Tagen beginnen die Olympischen Spiele von London. Sie sollen grün und nachhaltig werden und ein Zeichen gegen Gigantomie setzen - zumindest ein bisschen.

Auffällig? Unbedingt! Londons jüngste Sehenswürdigkeit ist schwer zu übersehen im East End, wo in den vergangenen 50 Jahren eher wenig gebaut wurde und gewiss nichts Spektakuläres jenseits von Wohnsilos, Supermärkten, Fabrikhallen. Bis Olympia in den armen Osten kam.

Das große rote Dingsbums auf der grünen Wiese würde auch neben der Tower Bridge ins Auge stechen. 1400 Tonnen Stahl, wie Magma in die Luft gespuckt, 115 Meter hoch. Der ausführende Ingenieur sagt, er selbst hätte so etwas nie gebaut – keine Kanten und geraden Flächen, überall Kurven und abenteuerlich ineinander verschlungene Rohre. Moderne Kunst halt. In genau 100 Tagen, zur Eröffnung der Olympischen Spiele von London, dürfen die ersten Besuchergruppen hinauf auf den ungewöhnlichsten Aussichtsturm der Welt. Der Arcelor Mittal Orbit steht genau zwischen dem schlichten Olympiastadion und dem hinreißend schönen Aquatics Centre, und seine Entstehungsgeschichte ist so ungewöhnlich wie seine Erscheinung.

Die Geschichte geht so: Vor drei Jahren trafen sich die Herren Boris Johnson und Lakshmi Mittal zufällig beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Schauplatz der Zusammenkunft war angeblich das Waschbecken der Herrentoilette, und Londons Bürgermeister Johnson fragte den Wirtschaftsmagnat Mittal auf dem ganz kurzen Dienstweg, was er denn zum Gelingen der Olympischen Spiele in seiner Stadt beitragen wolle. Mittal wuchs in Kalkutta auf und wohnt heute an den Kensington Gardens in Central London, er ist der reichste Mann Großbritanniens und der größte Stahlproduzent der Welt. Noch beim Abtrocknen der Hände gab er Johnson sein Wort, es war 16 Millionen Pfund wert. Und bescherte London den seltsamen Aussichtsturm, der vom indischen Architekten Anish Kapoor als Skulptur entworfen wurde und den Namen seines Finanziers trägt.

Die Geschichte vom Herrenklo in Davos fehlt bei keiner der Touristenführungen durch den Olympic Park, und mit jedem neuen Reiseführer gewinnt sie ein paar Details dazu. Die Botschaft dahinter lautet: Olympia in London wird anders, nicht nur wegen des roten Stahlungetüms mit Aussichtsplattform.

Dass London sich zu Beginn des Jahrtausends mit dem East End um die Spiele bewarb, war mutig. Aber auch logisch. Als einziger Kandidat boten die Briten ein innerstädtisches Gelände mit ausreichend Platz für Wettkampfstätten und Athletendorf. Leichtathleten, Schwimmer, Radfahrer, Basketballer, Handballer und Hockeyspieler, sie alle werden in der olympischen Kernzone in Fußwegnähe um Medaillen kämpfen.

Ein Signal gegen Gigantomie und Superlative

Der ungewöhnliche Aussichtsturm neben dem Olympiastadion ist Londons neueste Touristen-Attraktion.
Der ungewöhnliche Aussichtsturm neben dem Olympiastadion ist Londons neueste Touristen-Attraktion.

© Reuters

London 2012 soll, trotz des ausufernden Budgets, ein Signal gegen Gigantomanie und Superlative sein. Mit einem olympischen Park, der erst den Sportlern gehört und danach der Allgemeinheit. Die Spiele im East End stehen für Nachhaltigkeit, das Zauberwort der Moderne, dem sich neuerdings auch die Olympische Bewegung verschreiben will.

In diesem Sinne argumentierte Boris Johnsons Vorgänger Ken Livingston in seiner Kampagne für die Olympischen Spiele: Ihn interessierten nicht so sehr 16 Tage Sport, aber umso mehr die Chance, der Regierung reichlich Geld für die Sanierung und Entwicklung des East Ends abzuschwatzen. Allein im Olympic Park wurden seit der Vergabe der Spiele vor sieben Jahren 11 Milliarden Euro verbaut.

Die olympische Kernzone erstreckt sich über fünf Stadtbezirke und ist so groß ist wie die innerstädtischen Oasen Kensington Gardens und Hyde Park zusammen. Verrottete Schlachthäuser, Chemiefabriken und Ölraffinerien prägten hier früher das Bild. 800 000 Tonnen an verunreinigtem Boden wurden entfernt. Das Londoner East End, Albtraum einer kontaminierten Industriebrache mit all den Sünden der postindustriellen Revolution, inszeniert die ersten grünen Spiele der olympischen Geschichte.

Da gibt es ein Olympiastadion, dessen Dach von umfunktionierten Gasrohren gehalten und das nach den Spielen wieder abgebaut wird. Oder die Copperbox, die Handballhalle mit einer Außenhaut aus recyceltem Kupfer, das im Sonnenschein in verschiedenen Brauntönen funkelt. Die aufregend geschwungene Dachkonstruktion des Aquatics Centres wird erst richtig zur Geltung kommen, wenn die riesigen Tribünenhäuser an seinen Flanken nach den Spielen geschleift werden. Die Hallen für die Wasserball- und Basketball-Wettbewerbe werden nach den beiden olympischen Wochen gänzlich aus dem Olympic Park verschwinden und anderswo wieder aufgebaut.

Vor ein paar Jahren noch war es nicht ratsam, hier spazierenzugehen. Im Osten Londons regierten Armut, Arbeitslosigkeit und Jugendbanden, in bester Tradition des berühmtesten East Enders, den die ganze Welt als Jack the Ripper kennt. Der Stadtbezirk Newham, auf dem sich die größten Teile des Olympic Parks befinden, landete bei der von einem Fernsehsender ausgeschriebenen Wahl der schlechtesten Wohngegend Großbritanniens auf Platz vier.

Olympische Spiele sind keine Seligmacher

Nun wird der Osten Londons auch in der nacholympischen Zukunft bleiben, was er schon immer war. Eine Wohngegend für Unterprivilegierte. Früher Arbeiter und Tagelöhner, heute Einwanderer aus Bangladesh und Pakistan. Die Bevölkerung ist jung und arm, die Wenigsten haben Arbeit. Nur die Hälfte aller Ost-Londoner spricht Englisch als Muttersprache. Obdachlose und Bewohner alternativer Wohnprojekte in Newham wissen jetzt nur zu gut, wie Gentrifizierung in Großbritannien funktioniert. Und auch die Jugendbanden haben sich nicht aufgelöst, sie sind nur ein paar Blocks weitergezogen.

Nein, Olympische Spiele sind kein Seligmacher. Aber sie können dabei helfen, eine Region vom Stigma der Hoffnungs- und Trostlosigkeit zu befreien. Wer in diesen Tagen durch den Columbia Road Flower Market spaziert, durch die Boutiquen an der Brick Lane oder Cheshire Street, der erlebt ein quirliges, junges und kreatives East End. Auch das Kapital rückt nach. Porsche ist schon da, Ikea wird in ein paar Wochen folgen in das perfekt an die Metropolitan Area angebundene East End. Noch vor wenigen Jahren war eine Bahnfahrt vom Stadtzentrum nach Newham eine langwierige Angelegenheit mit komplizierten Umsteigevorgängen. Heute sind es mit dem Schnellzug sieben Minuten von King’s Cross zur Stratford Station. Auf dem neuen Bahnhof ankommende Olympiatouristen – und das sind so gut wie alle – müssen sich ihren Weg zum Olympiagelände durch Europas größtes Einkaufszentrum bahnen. Seit der Eröffnung im September 2011 zählten die 300 Läden knapp 4 Millionen Kunden.

Jamie Oliver betreibt hier ein Restaurant. Der britische Fernsehkoch hat mal versucht, die englischen Schüler zu gesundem Essen jenseits der Fastfoodkultur zu animieren, mit Gemüse der Saison, italienischem Käse und Vollkornreis. Der Erfolg fiel mäßig aus, und auch die Jugend der Welt will nicht allein von Jamie Oliver bekocht werden. Unter dem großen roten Stahl-Dingsbums im Olympic Park gibt es gleich drei McDonald’s, darunter das größte der Welt, konzipiert für 1500 Besucher. Ganz ohne Superlative geht es auch bei Olympia 2012 in London nicht.

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