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Viele Spieler aus Mikronesiens Nationalmannschaft waren vor den Pazifikspielen noch nie außerhalb ihres Dorfes gewesen.

© Imago

114 Gegentore – Mikronesiens Pleite bei den Pazifikspielen: Albtrauminsel

Mikronesiens Fußball-Nationalmannschaft ist mit null Punkten und 0:114 Toren bei den Pazifikspielen ausgeschieden. Die Fußballwelt ergießt sich im Spott, auf Amerikanisch-Samoa dagegen könnten die Sektkorken knallen.

Es ist mittlerweile 14 Jahre her, als Australien einen von diesen Fantasierekorden aufstellte, über den man sich bis heute im Netz, am Stammtisch oder auf dem Schulhof wunderbar schlapplachen kann. Die Socceroos gewannen damals, am 11. April 2001, mit 31:0 gegen Amerikanisch Samoa. Australiens Stürmer Archie Thompson erzielte in dieser Partie 13 Tore. Höchster Sieg in einem Profispiel überhaupt, höchster Sieg in einem WM-Qualifikationsspiel, meiste Tore in einem internationalen Fußballspiel, Rekorde, Rekorde, Rekorde – das war damals überall zu lesen. Das Spiel erschien lange Zeit so sensationell und unwirklich, dass es mittlerweile sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat.

Zehn Jahre nach diesem historischen Debakel wollte der Filmemacher Mike Brett die Pazifikinsel besuchen, um dort eine Dokumentation über die schlechteste Nationalmannschaft aller Zeiten zu drehen. Er kontaktierte die Verbandschefs, aber die lehnten zunächst ab. „Könnt ihr nicht mal eine andere Geschichte erzählen als die von der größten Lachnummer der Fußballgeschichte?“, sagten sie, und Brett verstand ihre Sorge.

Schließlich durfte der Regisseur doch drehen. Auch weil er versprach, tatsächlich eine andere Geschichte zu erzählen. Die von einer Mannschaft, die den Fußball liebte. Von Hoffnungen, Träumen und Teamspirit. Eine kleine Heldensaga, mit ein bisschen Pathos und einem Happy End.

Samoas Triumph gegen Tonga

In seinem Film „Next Goal Wins“ stolpern Fußballspieler über den Platz und schauen genau zu, wenn ihr neuer niederländischer Coach erklärt, wie man auf nassem Boden Bälle abgrätscht. Und dann, am 22. November 2011, feiern sie endlich ihren ersten Sieg nach 28 Jahren. Ein 2:1 gegen Tonga. Eine Wahnsinnsgeschichte. Ohne Millionenbeträge der großen Sponsoren. Ohne VIP-Partys. Ohne aufgeblasene Muliplexarena-Shows. Fußball wie er früher war. Auf der Wiese, im Innenhof, auf dem Bolzplatz um die Ecke. Ganz schön. Eigentlich.

Dennoch redete auch in den kommenden Jahren international kaum jemand vom großen Triumph, von der Rehabilitation gegen Tonga. Wenn in Kneipenquizrunden nur der Name „Amerikanisch-Samoa“ auftauchte, war die Antwort nach wie vor „Archie Thompson“, „31“ oder „Australien“.

Bis heute.

Denn dieser Tage wird eine neue Fußball-Lachnummer-Mannschaft durchs Netz getrieben. Sie kommt aus Mikronesien, und ist gerade bei den Pazifikspielen in Papua-Neuguinea ausgeschieden. Mehr noch: Sie hat sich bis auf die Knochen blamiert, sie ist das Schlechteste, was jemals einen Fußballplatz betreten hat. Sie hat in drei Spielen mehr Tore kassiert als der FC Barcelona in den letzten vier Saisons. So kann man es jedenfalls im Netz lesen.

Mikronesiens Schmach in Zahlen

Die Ergebnisse der drei Gruppenspiele in Zahlen: 0:30, 0:38, 0:46.

Die Gegner hießen nicht Frankreich, Argentinien. Nicht mal Australien. Mikronesien verlor gegen Fidschi, Tahiti und Vanuatu. Herrje, denkt da der Fußballfachmann, die Nationalteams dieser Länder würden wiederum gegen Zypern oder Malta zweistellig verlieren. Sicherlich auch gegen Fußballzwerge wie Andorra oder Liechtenstein.

Wie klein muss Mikronesien sein?

Der Reihe nach.

Am vergangenen Freitag eröffnet Mikronesien das Fußballturnier der Pazifikspiele gegen Tahiti. Die Mikronesier sind gnadenlos unterlegen und schon zur Halbzeit steht es 0:10. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Zuschauer längst auf die Seite des Underdogs geschlagen. Mikronesiens Nummer 10, Roger Nakasone, besingen sie ausdauernd als »Lionel Messi des Pazifiks«. Es nützt nichts. Am Ende wird Mikronesien mit 0:30 aus dem Stadion geschossen. Patrice Flaccadori, Trainer der siegreichen Tahitianer, sagt trotzdem nach dem Abpfiff: „Das erste Spiel eines Turniers ist nie einfach.“

„Noch nie mit einer Rolltreppe gefahren“

Zwei Tage später folgt das nächste Spiel. Gegner ist Fidschi, und nun klappt noch weniger. Zur Halbzeit quetschen sich 21 gegnerische Torschützen auf die Anzeigetafel, am Ende steht es 0:38. Fidschi-Trainer Juan Carlos Buzzetti spricht zwar nicht von einem schweren Spiel, aber er kritisiert seine eigenen Spieler, die nicht immer „meine Taktik des One-Touch-Football verfolgt haben“. Man brauche die Tore schließlich dringend, um nicht den Anschluss an Tahiti zu verlieren.

Der Abschluss des Scheibenschießens findet am 7. Juli gegen Vanuatu statt. Das Spiel geht 0:46 verloren, was die höchste Länderspielniederlage im internationalen Fußball bedeutet. Das Ergebnis wird trotzdem nicht als Weltrekord geführt, da es sich bei den Fußballteams der Pazifikspiele um U-23-Mannschaften handelt. Es tut dem Spott keinen Abbruch. Mikronesien ist ausgeschieden, null Punkte, null Tore, 114 Gegentore.

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Bei Twitter schreibt ein User: „Interessant, Dass der HSV nun unter einem anderen Namen weitermacht.“ Ein anderer fragt: „Worst Footie Team Ever?“ Ein dritter findet: „Die sollten lieber in Korallengärten tauchen.“

Bei Youtube gibt es ein Video des Spiels gegen Vanuata. Es wurde nicht von einer Sportseite, sondern von einem User mit dem Namen „Freaking Video„ hochgeladen, einer Video-Slapstick-Seite. Man sieht dort Mikronesiens Spieler herumstolpern, als hätte ihnen jemand die Augen verbunden. Natürlich darf man sich fragen, ob Mikronesiens Spieler überhaupt die Regeln des Fußballs kennen. Wissen sie, dass sie den Ball ins gegnerische Tor schießen müssen? Oder glauben sie, dass sie dem Ball ausweichen müssen?

„Viele Spieler waren nie zuvor außerhalb ihres Dorfes“

Man kann aber auch einfach schweigen. Oder sich freuen, dass es in Zeiten, in denen im Fußball alles perfekt ist, in denen sich Spieler wie Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi wie Computerfiguren über den Platz bewegen und Zlatan Ibrahimovic Fallrückzieher aus 40 Meter im gegnerischen Tor versenkt – dass es in Zeiten der High-Speed-Globalisierung und 4D-Computer-Analysen immer noch Länder gibt, wo alles gerade erst losgeht. In denen Spieler einen Sport ganz neu entdecken – und ein Stück weit auch die Welt.

Auch deshalb trat Mikronesiens Nationaltrainer Stan Foster nach dem Ausscheiden vor die Presse und versuchte, die drei Niederlagen in einen Kontext einzubetten. Er sagte: „Viele meiner Spieler waren nie zuvor außerhalb ihres Dorfes – geschweige denn außerhalb ihrer Insel.“ Seine Mannschaft habe zudem nie zuvor auf einem großen Feld gespielt, und einige Spieler seien auf dem Weg zu einem Vorbereitungsspiel auf Guam das erste Mal in ihrem Leben mit Aufzug und einer Rolltreppe gefahren. „Sie waren einfach ein wenig eingeschüchtert.“

Tatsächlich war Mikronesien im Fußball nie sonderlich erfolgreich – weder in Freundschaftsspielen noch bei den Pazifik- oder Ozeanienturnieren. 2003 verlor die A-Nationalmannschaft 0:19 gegen Neu-Kaledonien und 0:17 gegen Tahiti. Die U23-Mannschaft hat sich erst in diesem Jahr gegründet.

650 Fußballspieler auf Mikronesien

Auf Mikronesien, so erfährt man auf der Verbandshomepage, spielen 150 Erwachsene und 500 Jugendliche Fußball, es gibt drei Schiedsrichter und fünf Trainer. Der letzte (und einzige) Eintrag im News-Bereich datiert auf den 28. April 2006. Dort wird ein Fünfjahresplan vorgestellt. Unter Punkt 7 steht: „Fifa Mitgliedschaft“. Diese Hoffnung formulierte nun auch Trainer Foster: „Ich hoffe sehr, dass die Fifa-Inspektoren in der kommenden Woche nach Mikronesien kommen und uns im asiatischen Verband aufnehmen.“

Gute Argumente hat er ja nun. Genauer gesagt: 114. Und dann werden die Männer mit den Geldkoffern kommen und mit Stimmzetteln verschwinden. Es werden ein paar Sponsoren auftauchen und sicherlich auch einige Filmemacher. Und vielleicht wird Mikronesien bei den nächsten Pazifikspielen auch mal ein Spiel gewinnen. Es bleibt also nicht mehr viel Zeit, um den alten Fan-Traum zu verwirklichen: Nach Mikronesien reisen, einbürgern lassen, Fußball spielen, ein Tor schießen – und als Rekordtorschütze des Landes in die Geschichtsbücher eingehen.

Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von 11freunde.de

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