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In ihrem Element. Sport bedeutet für Melanie Böhm alles. Im Rollstuhl-Basketball ist die 35-Jährige überaus talentiert.

© Rollstuhl-Sport-Club Berlin e.V.

35-Jährige mit schwerem Gendefekt: Rollstuhlbasketball als Wohlfühlzone

Die Berlinerin Melanie Böhm leidet unter einem Gendefekt, eine Gesichtshälfte ist entstellt, der Alltag ist für sie oft ein Spießrutenlauf – nur im Sport kann sie sich vollends entfalten.

„Neurofibromatose, Typ 1“, sagt Melanie Böhm. Das möchte die 35-Jährige als Erstes loswerden.

Die meisten Menschen starren die drahtige Frau mit dem braunen Kurzhaarschnitt an, viele tuscheln, Jugendliche machen Sprüche im Vorbeigehen. Andere gucken beschämt zu Boden, wenn sich die Blicke streifen. Doch kaum jemand fragt, was sie hat oder warum sie aussieht, wie sie aussieht. „Das ist das Schlimmste“, sagt Böhm.

Neurofibromatose, Typ 1, ist ein Gendefekt. Unter dem Gesicht der jungen Frau wuchern gutartige Tumore. Nach jeder Operation wachsen sie nach. Böhm wurde über 20 Mal operiert, meist im Gesicht. Ihr rechtes Auge ist zugeschwollen und besitzt keine Sehkraft mehr. Die rechte Gesichtshälfte ist mit Narben übersät, die eine Seite ihrer Lippen dicker als die andere. Wegen Nebenwirkungen ihrer Erkrankung wurde Böhm der Unterschenkel amputiert. Wenn sie Pech hat, bildet sich demnächst ihr Kiefer zurück. Ihre Zähne würden ausfallen. „Ich bin nicht behindert, ich sehe nur so aus“, sagt Böhm und lächelt.

Eigentlich will sie nicht groß reden, sondern Sport machen

Es ist ein Montag im Spätfrühling, Kantstraße, im Berliner Westen. Graue Wolken trüben den Himmel. Böhm sitzt in einem Restaurant und ist ungeduldig, der Blick wandert von der Uhr zu ihrem Rucksack und von dort zurück zum Teller mit den Nudeln. Eigentlich will sie nicht groß reden, sondern Sport machen.

Rollstuhlbasketball steht auf dem Plan, und sie möchte eher an der Halle sein als ihre Teamkollegen. Ein paar Würfe im Stehen nehmen, aktiv sein. „Normalerweise hätte ich jetzt Badminton, doch der Aufzug ist kaputt. Meine Teamkollegen kommen nicht in den zweiten Stock“, sagt Böhm. Was Sport für sie bedeutet? „Alles.“

Für gewöhnlich fährt Böhm, die in Köpenick wohnt, im Sommer mit dem Rad 24 Kilometer zur Sporthalle in Charlottenburg. Viermal die Woche, hin mit dem Rad, zurück mit dem Bus. Auch wenn es regnet. Nur der Wind zwingt sie in die Öffentlichen Verkehrsmittel, weil die Fahrt dann zu anstrengend wird. Für sie ist es normal, Sportler machen das eben so, mit dem Fahrrad zum Training fahren. Doch nach dem Essen muss sie heute den Bus nehmen, das Wetter ist schuld. Die nächsten zehn Minuten zeigen: Es wird ein Spießrutenlauf.

Sie findet einen Sitzplatz, der für die anderen Passagiere zu einer Bühne wird. Ein dickbauchiger Mann verstopft sogar den Gang, weil er so mit Starren beschäftigt ist. Böhm rümpft die Nase. Das ist der Alltag, die Blicke der anderen, und nicht die Normalität, die sie immer gesucht hat, aber selten fand. „Es nervt. Wenn ich Mumm gefressen habe, spreche ich die Leute auch an“, sagt Böhm.

Böhm ist als arbeitsunfähig verrentet

Schon als Kind stand Böhm ungewollt im Mittelpunkt. Sie wollte auf eine normale Grundschule gehen, doch dann wurden die Hänseleien so gemein, dass sie die Schule wechselte. Als sie in der neunten Klasse war, wollte sie ein Praktikum in einem Supermarkt machen. Der Filialleiter nahm die Mutter beiseite und lehnte ab. Die Begründung: das Mädchen verschrecke die Kunden.

Böhm absolvierte den erweiterten Hauptschulabschluss, dann eine Ausbildung zur Schneiderin und holte die mittlere Reife nach. Einen richtigen Job, eine Chance, hat sie nie bekommen.

„Das Arbeitsamt meint, ich bin nicht vermittelbar“, sagt Böhm. Als „arbeitsunfähig“ verrentet, gibt sie ein paar Stunden in der Woche Kurse für Erwachsene mit leichter Behinderung: Darts und Kochen. Manchmal kommen nicht mal fünf Teilnehmer. Böhm sagt: „Hauptsache rauskommen, nicht zu Hause vermodern.“

Das Leben ist für sie die Schulsporthalle mit den riesigen Fenstern in Charlottenburg. Teamkameraden kann sie noch nicht erkennen, die Halle ist abgeschlossen. Da sie nicht nur Spielerin, sondern auch Schiedsrichterin, Abteilungsleiterin und Trainerin ist, hat sie einen Schlüssel für das moderne Gebäude.

Im Keller wuchtet sie die Spezialrollstühle aus Aluminium aus den Verankerungen, jeder ist 3500 bis 6000 Euro Wert. Sie trägt die Rollstühle für diejenigen mit, die ihre Sportgeräte ohne Fahrstuhl nicht in die Halle bringen können.

Auch nach Stürzen lacht sie laut

Auf dem Feld fällt Melanie Böhm nicht durch das Äußere, sondern nur durch Talent auf. Ihre Sportkleidung ähnelt der von Profiradfahrern, leicht und schnell gleitet ihr Stuhl über das Feld. In der Trainingsgruppe, zu der an diesem Tag 15 Männer und Frauen gekommen sind, gehört sie zu den Begabtesten. Obwohl sie nur eine Hälfte des Spielfelds richtig sieht, übernimmt sie den Aufbau und wirft Körbe.

Manchmal ist sie so ungebremst, dass ihr Rollstuhl nach dem Gegnerkontakt abhebt und sie mit ihrem rollenden Panzer auf den Boden geschleudert wird. Böhm lacht laut und richtet sich gekonnt wieder auf. Stürze wie dieser würden häufig passieren, sagt sie. „Wer gewinnen will, muss etwas riskieren.“

Doch auch der Sport ist für Böhm nicht mehr so unbeschwert, wie er es früher war. Ihre Wohlfühlzone Rollstuhlbasketball, in der nicht behinderte mit körperlich benachteiligten Sportlern zusammenspielen, ist in Gefahr. Die Zahl der Aktiven sinkt in ihrem Verein, weil der Nachwuchs fehlt.

In der Trainingsgruppe kämpfen Spieler aus zwei Berliner Oberligisten in gemischten Teams um den Ball, andere spielen nur interessehalber mit und haben an den Wochenenden keine Zeit. Die Altersspanne reicht dabei von Anfang zwanzig bis hin ins Rentenalter.

Für Böhm steht fest: Sie wird nicht aufhören

Für Melanie Böhm sind viele Dinge dafür verantwortlich: Die meisten wüssten gar nicht, dass es die Möglichkeit gibt, Rollstuhlbasketball zu spielen. Sie sei ja auch nur durch einen Zufall dazu gekommen.

Außerdem seien die Anschaffungs- und Reisekosten für viele Interessierte zu hoch, weil sie keine Arbeit hätten, um das Hobby zu finanzieren. Den Behindertensportverbänden fehlen die Mittel, um in der Breite zu fördern. „Und es fehlt eben vielen am Selbstvertrauen, überhaupt Sport machen zu können“, sagt Melanie Böhm.

Eine Option: In einer höheren Liga gegen stärkere Konkurrenz spielen. Doch auch hier gibt es ein Problem. Nach den Regularien der stärkeren Basketball-Ligen gilt sie als annähernd gesund. Im Rollstuhlbasketball ist das ein Nachteil, weil jeder Sportler je nach Schwere der Einschränkung einen Wert bekommt. Je höher die Einstufung des Spielers, desto schwerer ist es, in guten Mannschaften einen Platz zu finden. „Halbblind und beinamputiert ist eben nicht behindert genug“, sagt Böhm.

Wie sie genau weitermachen wird, das hat sie noch nicht entschieden. Im Sommer wird sie wieder operiert, das bedeutet eine lange Sportpause. Eines weiß Melanie Böhm trotzdem ganz genau: Sie wird nicht aufhören mit dem Sport.

Hannes Hilbrecht

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