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Ilkay Gündogan, 24, galt vor der WM in Brasilien als gesetzt im Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft. Wegen eines Nervwurzelreizsyndroms im Rücken musste der Profi von Borussia Dortmund jedoch passen und fiel von August 2013 bis Oktober 2014 aus.

© Imago

422 Tage ohne Fußball: Ilkay Gündogan: "Ich bin ein ganz anderer Mensch"

Ilkay Gündogan konnte 422 Tage lang kein Fußball spielen. Der Nationalspieler über einen Lebensabschnitt voller Schmerzen, das fehlende Teamgefühl und die verpasste Weltmeisterschaft in Brasilien.

Herr Gündogan, Sie haben am Mittwoch nach 19 Monaten zum ersten Mal wieder für die Nationalmannschaft gespielt. War das wie nach Hause kommen?

Das kann man fast so sagen. Die Nationalmannschaft ist mir sehr ans Herz gewachsen, sie ist ein Stück weit wie eine große Familie gewesen. Ich genieße es sehr, wieder hier zu sein.

Ihr Comeback haben Sie in Kaiserslautern gefeiert, ausgerechnet da, wo im August 2013 mit Ihrer Rückenverletzung eine lange Leidenszeit für Sie begonnen hat.

Das ist schon seltsam, oder? Natürlich ist dadurch alles noch einmal hochgekommen. Aber ich hege keine negativen Gedanken. Im Gegenteil: Ich freue mich, dass ich zurück bin. Und ich hoffe, dass ich die Verletzung wirklich komplett hinter mir gelassen habe und es jetzt einen Neustart in der Nationalmannschaft gibt. Damals hatte ich schon vor dem Spiel leichte Probleme, im Spiel musste ich dann nach 25 Minuten vom Feld. Dadurch hat es sich ein bisschen unvollendet angefühlt. Am Mittwoch hatte ich das Gefühl, als wenn ich etwas zu Ende bringen würde.

Haben Sie gleich wieder an dem Punkt anknüpfen können, an dem Ihre Karriere damals unterbrochen wurde? Oder merken Sie, dass mit der Mannschaft im Sommer etwas Außergewöhnliches passiert ist?

Das ist schwierig zu sagen. Für mich fühlt es sich eigentlich nicht anders an. Das sind immer noch dieselben Jungs, trotz ihres riesigen Erfolgs. Ich selbst bin natürlich noch nicht bei dem Niveau, das ich damals hatte. Aber die Rückkehr in die Nationalmannschaft wird mir einen Schub geben, da bin ich mir sicher.

Was können Sie der Mannschaft geben?

Das ist eine gemeine Frage. Ich will es mal so sagen: Ich glaube nicht, dass ich grundlos hier sitze. Die Leute werden sich was dabei gedacht haben. Dieses Kurzpassspiel, das der Bundestrainer sehen will, die flachen Pässe, die schnellen Kombinationen – das habe ich schon in mir.

Wie bewerten Sie die Konkurrenzsituation auf Ihrer Position?

Da hat sich nicht viel verändert. Wir haben vier, fünf Spieler, die im zentralen Mittelfeld einsetzbar sind. Vor meiner Verletzung war es ähnlich. Mein Tatendrang ist groß. Gerade die Spieler, die bei der WM nicht dabei waren, können noch mal einen frischen Wind reinbringen. Wir sind einfach hungrig, weil wir diesen großen Erfolg nicht miterlebt haben. Wir werden uns auf jeden Fall sehr, sehr viel Mühe geben.

Fühlen Sie sich um den WM-Titel betrogen?

Wenn man ein Jahr vor der WM auf Topniveau ist und sich relativ sicher sein kann, dass man am Ende der Saison dabei ist, dann ist so eine Verletzung ein herber Schlag. Das kann ich nicht leugnen. Trotzdem darf man den Punkt nicht verpassen, an dem man den Blick wieder nach vorne richtet und sich wieder aufrichten muss. Ich habe auch aus der Verletzung versucht, das Positive herauszuziehen – auch wenn es nicht immer einfach war.

Was ist denn das Positive – aus heutiger Sicht?

Die Verletzungszeit war ein Lebensabschnitt, aus dem ich viel gelernt habe. Ich weiß jetzt alles viel mehr zu schätzen. Als ich mich verletzt habe, war ich nicht mal 23, also eigentlich noch sehr jung. Trotzdem habe ich es für selbstverständlich gehalten, dass ich so ein privilegiertes Leben führen durfte. Erst der Rückschlag hat mir bewusst gemacht, dass dieses Leben eben nicht selbstverständlich ist. Und ich weiß es jetzt zu schätzen, dass ich den Tag auch mal ohne Schmerzen verbringen kann.

Wie hat der Schmerz Ihr tägliches Leben beeinflusst?

Ich bin morgens aufgestanden und hatte direkt irgendwelche Probleme, und abends beim Einschlafen hatte ich die zum Teil auch noch. Auf der rechten Seite konnte ich kaum liegen. Es ging nur auf dem Rücken oder auf der linken Seite. Bücken war schwierig. Ich musste mich setzen, wenn ich mir die Schuhe oder eine Hose anziehen wollte. Und auch beim Autofahren hatte ich Probleme. Im Vergleich dazu fühle ich mich jetzt, als wäre ich neu geboren. Ich bin ein ganz anderer Mensch.

Steckt Ihnen die Angst vor dem Schmerz noch im Hinterkopf?

Das werde ich oft gefragt. Aber ehrlich gesagt, verstehe ich diese Frage nicht. Nein, anders: Ich verstehe schon, dass die Leute so denken. Dass sie fragen: Hast du denn gar keine Angst, in die Zweikämpfe zu gehen? So habe ich vorher ja auch gedacht. Aber es ist nicht der Fall. Im Gegenteil. Ich genieße es momentan so sehr, wieder Fußball zu spielen, dass ich keinen Gedanken an den Schmerz verschwende. Ich genieße es, dass ich wieder gesund bin. Dass ich morgens aufwache und keine Schmerzen mehr habe, dass ich problemlos trainieren und spielen kann. Ich denke jedenfalls nicht daran, was sein könnte, wenn irgendwann mal wieder ein Schmerz auftritt.

„Das Einzige, was letztlich geholfen hat, war die Operation. Die hätte man natürlich auch eher machen können.“

Die Verletzung ist erst sehr spät als Nervenwurzelreizsyndrom identifiziert worden und schließlich mit einem minimalinvasiven Eingriff an der Lendenwirbelsäule behandelt worden. Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie keine Allerweltsverletzung haben?

Das hat etwas gedauert, weil ich das am Anfang auch nicht so richtig wahrhaben wollte. Ich hatte schon mal eine ähnliche Verletzung, da war nach drei Wochen alles wieder okay. Erst nach der Winterpause vor einem Jahr habe ich gemerkt, das ist was Größeres. Als ich im Trainingslager zum ersten Mal wieder mittrainiert habe, ist mir relativ schnell klar geworden: Es geht leider noch nicht, wir müssen was anderes probieren. Ein halbes Jahr lang hatte ich alles getan, um fit zu werden, und trotzdem war ich kaum einen Schritt weiter gekommen. Das war der Zeitpunkt, der am schwierigsten für mich war.

Sie haben sich sogar in einem Militärkrankenhaus auf der Krim behandeln lassen.

In einer solchen Situation versuchst du, die perfekten Leute zu finden, die dir helfen können und dich wieder nach vorne bringen. Mir war letztendlich egal, wer das ist und wo das ist. Mir war nur wichtig, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob die Leute vernünftig mit mir arbeiten. Das war auf der Krim der Fall. Es gab auch überhaupt keine Gefahrensituation für mich. Das wurde alles etwas dramatisiert hier. Alles war ruhig, ich war zwei Wochen dort und konnte gut arbeiten. Im Nachhinein kann man natürlich sagen: Es hat nichts gebracht. Das Einzige, was letztlich geholfen hat, war die Operation. Die hätte man natürlich auch eher machen können.

Warum haben Sie nicht?

Wir haben schon nach sechs Monaten darüber diskutiert. Damals wollte ich nicht, weil ich das Gefühl hatte, dass noch nicht alle Optionen ausgeschöpft sind. Außerdem hatte ich sehr viel Respekt vor dieser Operation. Im Endeffekt muss ich sagen, die OP war in der ganzen Zeit das Angenehmste überhaupt und absolut die richtige Entscheidung. Ich würde lügen, wenn ich sage: Ich bereue es nicht, dass ich es nicht vorher gemacht habe. Aber alles hat seinen Zweck.

Die Öffentlichkeit hat in dieser Zeit sogar darüber spekuliert, dass Ihnen die Sportinvalidität droht. Haben Sie diesen Gedanken einmal an sich herangelassen?

Klar gab es Rückschläge und Phasen, wo du denkst: Warum musste das passieren? Warum ausgerechnet ich? Warum ausgerechnet zu dieser Zeit? Aber ich habe nie am großen Ganzen gezweifelt. Daran, dass ich wieder zurückkehre auf den Fußballplatz. Ich wusste immer: Die Verletzung ist kein Drama, aber man muss das Richtige finden, um dieses Problem zu lösen. Mich hat schon sehr früh jemand gefragt: „Was glaubst du, wie viel du machen musst, damit du wieder gesund wirst?“ Ich habe damals geantwortet: „Nicht viel, glaube ich. Aber man muss das Richtige machen.“ Komischerweise hatte ich recht mit diesem Gefühl. Das Richtige war eben die Operation. Aber sie war auch die letzte Option. Wenn ich danach noch Schmerzen gehabt hätte, wäre es wahrscheinlich wirklich langsam schlimm geworden.

Was war wichtiger für Sie: keine Schmerzen mehr zu haben oder wieder Fußball spielen zu können?

Ich wollte definitiv zurück auf den Fußballplatz. Es gab ja auch Phasen, wo ich mittrainiert habe. Oder versucht habe mitzutrainieren. Im Winter-Trainingslager vor einem Jahr habe ich mehrere Einheiten mitgemacht, obwohl ich eigentlich die ganze Zeit Schmerzen hatte. Ich wollte aber unbedingt trainieren und das Gefühl haben, wieder am Ball zu sein, wieder dazuzugehören. Irgendwann kommt man sich auch alleine vor, wenn man dieses Teamgefühl nicht mehr hat. Ein Stück weit entwickelt man sogar eine Sucht danach.

Entwickelt man auch eine persönliche Beziehung zum Schmerz? Verflucht man ihn? Redet man auf ihn ein?

Persönliche Beziehung wäre jetzt vielleicht übertrieben. Aber der Schmerz begleitet einen die ganze Zeit. Der ist einfach da. Und man kann ja nicht mit ihm Schluss machen und sich einfach trennen. Das wäre schön gewesen. Es hat sich auch nicht so gewendet, dass ich den Schmerz auf einmal als etwas Positives angesehen hätte. Es gab schon Momente, wo ich akzeptiert habe, dass er da ist und ich damit umgehen und leben muss. Aber das war kein langfristiges Denken. Wir haben jedenfalls alles Mögliche getan, damit ich diesen Schmerz wieder los werde.

Wie war es, als er plötzlich weg war? Wann haben Sie das überhaupt registriert?

Direkt, nachdem ich aus der OP aufgewacht bin. Das hat sich komplett anders angefühlt, als es vorher der Fall war.

Haben Sie gleich eine Bewegung ausprobiert, die vorher geschmerzt hat?

Ja, klar – auch wenn die Ärzte gesagt haben: Erst mal nicht großartig bewegen. Aber ich durfte relativ schnell aufstehen und ein paar Schritte gehen. Es war so ein befreiendes Gefühl, das kann man gar nicht so richtig beschreiben.

Wie ein WM-Titel?

Vielleicht wie ein persönlicher Titel, ja. Auf jeden Fall einfach schön.

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