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Die Frisur sitzt noch. Wolfgang Overath und Karl-Heinz Schnellinger betreten den Platz im Wembley Stadion. Foto: Imago/Baumann

© imago sportfotodienst

50 Jahre Wembley-Tor: Verstehen keinen Spaß, die Hunnen

50 Jahre, der Tag vor dem Finalabend von Wembley: die englischen Medien heizen die Stimmung an und Franz Beckenbauer hätte eigentlich nicht spielen dürfen. Ein Rückblick zum Jubiläum.

Am späten Samstagvormittag sperrt der Hausmeister das Eingangstor zum Wembleystadion auf. Mit einem großen Schlüssel, den er aus der Tasche zieht, neugierig beobachtet von einer einsamen Fernsehkamera und ein paar wenigen Schaulustigen, die sich zu ungewohnt früher Stunde auf den Weg in den Londoner Nordwesten gemacht haben. Kein Grund zur Hektik, es sind ja noch fünf Stunden bis zum Endspiel.

1966 begeistert der Fußball längst die ganze Welt und ist doch noch eine sehr geerdete Angelegenheit. Der großartige Dokumentarfilm „Goal!“ zeigt, wie familiär es zuging rund um das Finale um die Weltmeisterschaft 1966, das sich an diesem Samstag zum 50. Mal jährt. Damals, als England und Deutschland sich noch gemeinsam als Weltmächte des Fußballs verstehen und als Vorreiter eines neuen, vereinten Europas verstanden. Ein halbes Jahrhundert später liegt England ein Stückchen westlich von Europa, und dass es keine Fußball-Macht mehr ist, haben ihm die frechen Isländer vor ein paar Wochen bei der Europameisterschaft in Frankreich gezeigt.

Der 30. Juli fällt 1966 wie auch 50 Jahre später auf einen Samstag. England spielt gegen Deutschland, und das ist mehr als eine sportliche Auseinandersetzung. Der Zweite Weltkrieg liegt gerade 21 Jahre zurück und ist in London immer noch allgegenwärtig. Die Luftschlacht um England, angezettelt und verloren von Nazi-Deutschland, hat unter der Zivilbevölkerung knapp 30 000 Tote gefordert, viele davon in London. „Wir Deutschen waren damals in der Welt ja nicht sonderlich beliebt“, erinnert sich der Kölner Wolfgang Weber, er lief bei der WM als Verteidiger auf. „Ich bin Jahrgang 1944, unser Torhüter Hans Tilkowski als unser Ältester ist 1935 geboren. Wir hatten alle mit dem Krieg nichts zu tun, nur mit den Kriegsfolgen. Aber natürlich gab es Vorbehalte gegen die Deutschen.“

Im Sommer 1966 beginnt, was die Engländer noch heute umtreibt, wenn es auf dem Fußballplatz gegen die Deutschen geht: eine Vermengung von Krieg und Fußball, deren ironischer Hintersinn sich nicht jedem erschließt. In den Pubs singen sie das Lied von den „Ten German Bombers“, bei dem sich die Zahl deutscher Flugzeuge in jeder Zeile um eines verringert, bis am Ende gar keins mehr da ist. Die Zeitungsleute haben Spaß an Überschriften wie „Let’s Blitz Fritz!“ oder „Herr we go!“, nach dem 2:1 der Deutschen im Halbfinale gegen die Sowjetunion entdecken sie „den Geist von Stalingrad“. Das gibt in Deutschland einen kleinen Skandal, worüber sich die Engländer köstlich amüsieren – verstehen einfach keinen Spaß, die Hunnen.

Wembley gilt damals als das schönste Stadion der Welt

50 Jahre später erinnert sich Wolfgang Weber nur noch dunkel an die „gewöhnungsbedürftige Presse mit ihren Schlagzeilen: Jetzt kommen die Deutschen wieder mit ihren Panzern und wollen uns überrollen. Na ja, ich habe während der ganzen WM keine einzige Zeitung gelesen.“ Auch die englische Mannschaft spielt mit bei der Weltkriegsfolklore. Vor dem Finale gehen die Spieler ins Kino und schauen sich einen Film mit dem harmlos erscheinenden Titel „The Blue Max“ an. „Blauer Max“ nennen die Engländer den Orden „Pour le Mérite“, die höchste deutsche Auszeichnung im Ersten Weltkrieg. Im Film geht es um eine Luftschlacht, und natürlich gewinnen die Engländer.

Auch die Weltmeisterschaft verläuft bisher ganz in ihrem Sinne. Am Anfang hakt es noch ein wenig beim 0:0 gegen die Defensivkünstler aus Uruguay, aber danach gibt es nur noch Siege. Ein Star bleibt dabei auf der Strecke. Jimmy Greaves von Tottenham Hotspur ist Englands bester Stürmer, aber dann verletzt er sich im letzten Vorrundenspiel gegen Frankreich und muss im Viertelfinale Platz machen für Geoffrey Hurst. Dem Stürmer von West Ham United gelingt gleich in seinem ersten WM-Spiel das Siegtor zum 1:0, und Trainer Alf Ramsey verfährt streng nach dem Prinzip: „Never change a winning team!“ Also stürmt Hurst auch im Halbfinale beim 2:1 gegen Portugal, und niemand zweifelt daran, dass Ramsey ihn am Samstag im Finale aufbieten wird.

Der Spielplan hat die Engländer bisher jedes Mal ins Wembley-Stadion geführt, es gilt als das schönste Stadion der Welt und flößt auch den Deutschen Respekt ein. „Das Phänomen Wembley haben wir sehr wohl wahrgenommen“, sagt der Kölner Wolfgang Weber. „Also: Das alte Wembley, das ja leider abgerissen worden ist zugunsten einer dieser Riesenarenen, wie sie jetzt überall auf der Welt stehen. Das alte Stadion war ein Juwel, das Neuschwanstein des Fußballs.“ Per Los wird den Deutschen die Ehre zuteil, im Finale als Heimmannschaft in diese Kathedrale einzulaufen. Sie dürfen auch ihre schwarz-weißen Leibchen tragen und sich in der englischen Kabine umziehen.

Der englische Respekt konzentriert sich auf einen, den sie auf der Insel „The German Wunderkind“ nennen. Im Sommer 1966 trägt Franz Beckenbauer noch nicht das berühmte Trikot mit der Nummer 5, das ist dem Hamburger Abwehr-Haudegen Willi Schulz vorbehalten. Beckenbauer bekommt die 4, und auf dem Platz gibt er noch nicht den Stehgeiger mit den eleganten Außenristpässen. 1966 verliebt sich die ganze Welt in den Giesinger Buben. Bei der WM in England, als Repräsentant eines veränderten Deutschlands, das Fußball nicht mehr als Vorwegnahme kriegerischer Handlungen auf Rasen interpretiert. Die Welt staunt über die Kunst dieses 21-Jährigen. Er spielt und lacht und tänzelt wie ein Kind, das auf der Wiese mit den Großen kicken darf und gar nicht versteht, warum alle anderen mit weit geöffneten Mündern zuschauen. England erlebt den frühen, den besten Beckenbauer aller Zeiten.

Im Finale aber hätte er eigentlich gar nicht mitspielen dürfen. Im Halbfinale schießt Beckenbauer zwar ein großartiges Tor gegen den sowjetischen Wundertorhüter Lew Jaschin, sieht aber eben auch seine zweite Gelbe Karte, auch wenn die 1966 noch nicht so heißt, sondern Verwarnung. Egal, der Effekt ist derselbe: Zwei Verwarnungen im Turnier ziehen eine automatische Sperre von einem Spiel nach sich. Doch die Fifa ist schon 1966 ein überaus kreativer Verein. Weil der Weltverband im Finale nicht auf eine der größten Attraktionen verzichten will, weigert er sich einfach, die zweite Verwarnung zu bestätigen. Beckenbauer ist im Finale dabei und die Show kann beginnen. Am späten Samstagvormittag, wenn der Hausmeister das Eingangstor zum Wembleystadion aufsperrt.

Lesen Sie am Sonntag unseren aktuellen Spielbericht vom Wembley-Finale – verfasst 50 Jahre danach, aber im atemlosen Kampf gegen den Redaktionsschluss, als hätte das Spiel am Abend zuvor stattgefunden.

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