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Sport: Ab jetzt zählt es

22 Monate hat Jürgen Klinsmann auf diesen Tag hingearbeitet – was hat der Bundestrainer bewirkt und wie sieht seine Zukunft aus?

Berlin - Theo Zwanziger war dabei, als beim Deutschen Fußball-Bund die Moderne aufzog. Er stand im Büro von Horst R. Schmidt, dem Generalsekretär des DFB, das Telefon klingelte, Schmidt nahm den Hörer ab und stand plötzlich von seinem Stuhl auf. „Das macht er nur, wenn irgendetwas Besonderes passiert“, sagt Zwanziger, der damals, im Sommer 2004, noch Schatzmeister des Verbandes war. Schmidt hat Zwanziger nach dem Telefonat berichtet, dass Berti Vogts ihm gerade empfohlen habe, Jürgen Klinsmann zum neuen Bundestrainer zu machen. „Ja, dann nimm ihn doch!“, sagte Zwanziger zu Schmidt.

Seitdem Klinsmann als Bundestrainer zwischen seinem Wohnort Kalifornien und seinem Arbeitsort Deutschland hin- und herpendelt, gibt es Kämpfe im größten Fußballverband der Welt: um angeblich moderne Spielsysteme, um angeblich unmodernes Personal, vor allem aber immer wieder um Klinsmann selbst. Ab jetzt steht all das zur Prüfung an. Heute im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica wird sich zum ersten Mal zeigen, was das System Klinsmann bewirkt hat. Und was es zusammenhält, womöglich über die Weltmeisterschaft hinaus. Vom Abschneiden der Mannschaft hängt Klinsmanns Zukunft ab. Denn sein Arbeitgeber beobachtet ihn genau.

Jürgen Klinsmann weiß das und sagt, dass er „damit gut leben“ könne. Er musste es ja schon vor 22 Monaten wissen, als er sein Projekt WM-Sieg 2006 vorstellte. Ihm war klar, dass er für sein Projekt nicht einmal zwei Jahre Zeit haben würde. Damals, im August 2004, war er mit dem Ziel angetreten, eine Spielphilosophie zu entwickeln, die nach vorn gerichtet ist. Offensive, Tempo und Aggressivität waren seine Schlagworte. Er wollte einen Generationswechsel vollziehen und der Mannschaft ein neues Gesicht geben. Er hat diesen Prozess mit Eifer und ohne Kompromisse vorangetrieben. Doch Klinsmann will, dass aus diesem Prozess eine langfristige Denkweise wird, die den DFB durchdringt, die bis in die U 15, in die Trainingslehre und die Trainerausbildung reicht. Das dauert und, noch wichtiger: „Dieser Prozess braucht natürlich seine Glaubwürdigkeit“, sagt Klinsmann. „Die wollen wir uns mit Erfolgen bei diesem Turnier holen.“

Lothar Matthäus, einst Klinsmanns Mitspieler bei Inter Mailand und in der Nationalelf, hat vor wenigen Wochen gesagt: „Wenn er Weltmeister wird, wird er wahrscheinlich aufhören. Fliegt er im Achtelfinale raus, wie ich es befürchte, ist sein System gescheitert.“ Zwar steht Matthäus latent im Verdacht, sich selbst für den Posten des Bundestrainers in Stellung zu bringen, von der Hand zu weisen sind seine Ansichten nicht. Es ist schon lange nicht mehr nur die Frage, ob man Klinsmann lässt, sondern ob er selbst noch will.

„Jürgen Klinsmann hat uns gut getan“, sagt Theo Zwanziger, der inzwischen einer von zwei DFB-Präsidenten ist. „Wir haben gewusst, dass er kein einfacher Mensch ist.“ Das Verhältnis zwischen Klinsmann und dem Verband ist nie einfach gewesen. Auch Zwanziger hat seine Schrammen davon getragen, als er dafür stritt, dass die Mannschaft während der WM in Leverkusen ihr Quartier bezieht. So war es versprochen, doch Klinsmann fühlte sich an die Vorgabe seines Vorgängers Rudi Völler nicht mehr gebunden. Am Ende setzte er sich durch. Die Nationalmannschaft logiert jetzt in Berlin.

„Wenn man knapp zwei Jahre auf das eine Ziel hingearbeitet hat, dann ist man froh, wenn es losgeht“, sagt Klinsmann. Aber wie geht es los, mit welcher Mannschaft, mit welchem System? Und was ist wirklich neu? In den 27 Länderspielen unter seiner Führung hat er 39 Spieler eingesetzt, darunter zwölf Neulinge. Von den Newcomern gehören sechs zum 23-köpfigen Kader, aber nur einer von ihnen, Per Mertesacker, wird wohl heute im Eröffnungsspiel der WM in der Startformation stehen. Je näher die WM rückte, desto mehr näherte sich die Besetzung jener Elf an, die bei der EM 2004 versagt hat.

„Manches ist in der Kommunikation zwischen DFB und Jürgen Klinsmann nicht optimal gelaufen“, sagt Gerhard Mayer-Vorfelder. Der schon zur Hälfte entmachtete Präsident des DFB, immer noch zuständig für die Nationalmannschaft, steht bei einem WM-Fest in München am Rand und schüttelt den Kopf. Mayer-Vorfelder steht abseits der anderen Entscheidungsträger des Verbandes, die sich zuprosten und längst die Zeit ohne ihn planen. Doch mit seinem Rest an Autorität hat er versucht, den Bundestrainer zu schützen vor jenen, die sich von Klinsmanns Reformen herausgefordert fühlten. Weil sie plötzlich als unmodern galten.

Klinsmann hat seine kleinen Grausamkeiten immer so begründet, dass alles nur dem einen großen Ziel diene: 2006 Weltmeister zu werden. Dagegen konnten die Funktionäre wenig sagen. Als Klinsmann aber zum ersten Mal eine strukturelle Veränderung durchsetzen wollte, die über 2006 hinausreicht, nutzten sie die Gelegenheit, um ihn auflaufen zu lassen. Als Anfang des Jahres sein Plan bekannt wurde, dass Bernhard Peters, der Hockey-Bundestrainer, Sportdirektor beim DFB werden soll, beförderten die Funktionäre den Fußballer Matthias Sammer auf diesen Posten. Klinsmann hatte vor seinem Amtsantritt getönt, man müsse den ganzen Laden, den DFB, auseinander nehmen. Nachdem das passiert war, kamen die Funktionäre und setzten alles wieder so zusammen, wie es vorher war.

Die Frage ist: Was wird von Klinsmann bleiben, wenn er eines Tages nicht mehr da ist? Der DFB beschäftigt sich intensiv mit dem Fall, nach der WM ohne den Bundestrainer Klinsmann dazustehen –, weil Klinsmann selbst sich noch nie eindeutig geäußert hat. Als er beim DFB anfing, hat er nie einen anderen Eindruck hinterlassen, als das Projekt nur für zwei Jahre leiten zu wollen. „Es gab Phasen, da hat man gemerkt: Die Aufgabe reizt ihn“, sagt Zwanziger. Ein Vertrauter Klinsmanns aber erzählt, dass nicht einmal Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, wisse, was Klinsmann vorhabe. Vielleicht weiß es nicht einmal Klinsmann selbst. „Grundsätzlich kann ich mir die Arbeit auch nach der WM vorstellen, weil mir die Arbeit Spaß macht. Wir haben einen Prozess in Gang gesetzt, der weiter andauert und über die WM hinausgehen sollte“, sagt Klinsmann. „Die Konstellation ist aber auch klar: Ein Trainer wird am Erfolg gemessen, der sich hoffentlich einstellen wird.“

Dem Verband geht es zwar auch, aber nicht nur um Klinsmann, allenfalls darum, den Wind, den der kalifornische Schwabe entfacht hat, zumindest weiterhin zu nutzen. Wenige Wochen vor der WM wurde der Vertrag mit Oliver Bierhoff bis 2010 verlängert. „Ich arbeite daran, dass der Jürgen weitermacht. Ich will die Dinge vorantreiben, die schon unter Jürgen Klinsmann begonnen wurden“, sagte der Manager. Er sagte nicht, dass er dazu unbedingt Klinsmann braucht.

Für die Nationalspieler scheint Klinsmann ein voller Erfolg zu sein. Er hat sie wieder in den Mittelpunkt gerückt. Jürgen Klinsmann hat in seiner Amtszeit viel bewegt, vor allem im Umfeld der Spieler. Er hat Abläufe auf Länderspielreisen verändert und Personen ausgetauscht. Vor allem jene, von denen er annehmen musste, dass sie Informationen aus dem Inneren nach außen tragen. Er entfernte alt gediente DFB-Männer (Pfaff, Skibbe, Stielike, Rutemöller, Maier) und ersetzte sie mit Männern seines Vertrauens. Oliver Bierhoff (38) und Andreas Köpke (44) waren schon als Nationalspieler Klinsmanns Wegbegleiter. Mit Joachim Löw (46) hat Klinsmann 2000 seinen Fußballlehrerschein gemacht. „Gemeinsam ziehen wir das durch, woran wir glauben“, sagt Bierhoff.

In Klinsmanns Welt gibt es zwei Ebenen: Die eine ist den Medien bis zu einem bestimmten Punkt zugänglich. Den Klinsmann, der in der zweiten wirkt, kennt draußen niemand. Die Spieler sprechen so gut wie nie darüber, und wenn, hören sie sich an wie Sebastian Kehl. „Der Trainer ist sehr positiv, sehr offensiv, sehr engagiert. Er lebt das vor.“ Wie man sich das genau vorzustellen hat, wollen oder können die Spieler nicht in Worte fassen. Löw, Köpke und Mark Verstegen, der amerikanische Fitnesstrainer, erledigen die Trainingsarbeit. Wenn aber die Spieler davon erzählen, was der Trainer denkt, macht und sagt, dann meinen sie eben nie Löw, Köpke oder Verstegen, sondern Klinsmann.

„Der Kern des Fußballs sind die Spieler“, sagt Mayer-Vorfelder. „Und die Spieler scheinen mir gerne mit Klinsmann zusammenzuarbeiten.“ Schließlich üben sie Dinge, die sie in den Vereinen nicht trainieren. Wurden die Übungen mit den Fitnesssheriffs aus den USA von den Spielern anfangs noch belächelt, so wird die Arbeit heute gepriesen. Während der Bremer Miroslav Klose plötzlich Muskeln spürte, deren Existenz er nicht einmal ahnte, so stieß der Berliner Arne Friedrich, nach dem ersten Besuch des eigens für den WM angeschafften 1000 Quadratmeter großen Fitness-Maschinenparks, das Wort „vorbildlich“ aus. In den Vereinen gebe es das nicht, deshalb könne man das nur genießen und mitnehmen.

„Klinsmanns Verdienst ist die Stimmung in der Mannschaft, die sich im günstigen Fall bei der WM auf das Land überträgt“, sagt Wolfgang Niersbach, ein erfahrener Verbandsmann, der bei der WM 1990 in Italien als Pressechef auf der Bank saß und nach diesem Turnier zum DFB-Generalsekretär aufsteigen könnte. „Beim Confed-Cup hat die Mannschaft begeistert, mit jungen Leuten wie Lukas Podolski. Beim Spiel gegen Mexiko blieb kein Zuschauer auf seinem Stuhl sitzen, das hat schon viele im DFB beeindruckt.“ Aus Sicht von Niersbach hat Klinsmann die Nationalmannschaft wieder auf das Wesentliche konzentriert: „Er hat versucht, die Fitness der Spieler zu verbessern, er hat die psychologische Betreuung eingeführt. Zuerst ist er damit auf Vorbehalte gestoßen, das ist ja klar.“ Vorbehalte – das ist eine sanfte Umschreibung für die nachhaltige Skepsis, die Klinsmann bis zum Turnierbeginn aus den Anzugreihen der Ehrentribüne entgegenschlug.

Es gibt viele Vorurteile, und inoffziell werden sie gerne verbreitet: Klinsmann sei ein Egomane, der sich mit seinem Stab vom Rest des Verbandes abschotte und andere nur um Rat frage, wenn er sich verrannt habe. Klinsmann sei ein Killer, der bei heiklen Personalentscheidungen das kalte Abservieren bevorzuge. Klinsmann sei ein Geschäftsmann, der den DFB um viel Geld erleichtere. Mögen in allen Vorwürfen auch versteckter Neid und gekränkte Eitelkeiten innewohnen, so gibt es punktuell Indizien. DFB- Schatzmeister Heinrich Schmidhuber, ein wortkarger Bayer, sagt es so: „Für die Weltmeisterschaft im eigenen Land wollte der DFB natürlich alles tun.“ Aufs Geld hat man dabei nicht geachtet, was einem bürokratisch korrekten Mann wie Schmidhuber offenbar zu denken gibt: „Nach der WM wird man sich sicherlich über alles unterhalten müssen.“ Vor allem über die Kosten für die Heimflüge Klinsmanns in die USA könnte neu verhandelt werden, heißt es in DFB-Kreisen. Auf die Frage, wie viel das Unternehmen WM unter Klinsmann denn den Verband koste, sagt Schmidhuber: „Dazu sage ich kurz vor der Weltmeisterschaft lieber nichts.“

Jürgen Klinsmann hat die Widerstände stets aufmerksam registriert. Wohl auch deshalb hat er sich nicht entschieden, ob er nach der WM weitermachen sollte. „Er hat schon Blut geleckt“, sagt Mayer-Vorfelder. „Aber seine Entscheidung scheint mir offen zu sein.“ Doch ob der künftig allein herrschende Präsident Zwanziger, der sich stets der Basis verpflichtet fühlt, und Klinsmann, der so oft wie möglich in die USA flüchtet, sich gegenseitig vertrauen, wird in Verbandskreisen bezweifelt. „Wir haben schon Szenarien durchgespielt, aber das war noch kein ernsthaftes Ausloten“, sagt Zwanziger. „Jürgen Klinsmann braucht keinen Rettungsring.“ Für ihn aber sei es erste Priorität, mit Klinsmann weiterzumachen.

Horst R. Schmidt kann so leicht nichts erschüttern, er erhebt sich nur bei wichtigen Nachrichten von seinem Platz. „Jürgen Klinsmann hat den DFB nicht verändert“, sagt der Generalsekretär, der den Verband wie kein Zweiter kennt. „Er hat das Umfeld der Nationalmannschaft umgestaltet.“ Wenn Klinsmann die Früchte dieser Saat ernten möchte, muss er wohl über das WM-Finale am 9. Juli hinaus Bundestrainer bleiben. Es sei denn, seine Mannschaft gewinnt dieses Finale.

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