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Sport: Abflug vor dem Abflug

Von Erik Eggers Köln. Es ist doch noch zu einer überraschenden Auswechslung gekommen.

Von Erik Eggers

Köln. Es ist doch noch zu einer überraschenden Auswechslung gekommen. Einen Tag vor dem Abflug zur Weltmeisterschaft nach Japan berief Teamchef Rudi Völler erst den Dortmunder Lars Ricken für den verletzten Sebastian Deisler. Dass indes Jörg Böhme noch im letzten Moment den Platz von Jörg Heinrich einnimmt, besitzt fast schon sensationellen Charakter. Der offizielle Grund: Drei Tage nach dem letzten Testspiel in Leverkusen teilte Heinrich der Mannschaftsleitung mit, er sei nicht fit genug für eine WM.

Er sei optimistisch gewesen, wieder rechtzeitig in Form zu kommen, zitiert der Deutsche Fußball-Bund (DFB) den 37-maligen Nationalspieler auf seiner Website, aber „ich muss nach den Vorbereitungsspielen selbstkritisch eingestehen, dass ich in meiner derzeitigen körperlichen Verfassung keine Hilfe für unsere Nationalmannschaft sein kann". In der Tat waren seine letzten Auftritte völlig missraten, vor allem beim 0:1 gegen Wales in Cardiff. Wie bei der WM 1998 in Frankreich hatte Heinrich das rechte Pendant im Mittelfeld zu Christian Ziege gebildet, und wie bei der WM 1998 hatte der Sturm vergeblich auf verwertbare Flanken gewartet. Und auch der Versuch Rudi Völlers am letzten Samstag gegen Österreich, den ehedem als Allrounder gepriesenen Heinrich auf der linke Seite einzusetzen, ging völlig schief. Heinrichs Leistung bewegte sich in unterirdischen Gefilden – mehr als einmal spielte er, obschon keineswegs bedrängt, in den ganz leeren Raum.

Es waren exakt jene Fehlpässe und Unsicherheiten, die schon in der vergangenen Woche die Frage nach der Austauschbarkeit Heinrichs aufkommen ließen. Ob nicht Böhme im Spiel nach vorne mehr ausrichten könne? „Das wird überhaupt nicht diskutiert“, sagte Bundestrainer Michael Skibbe da noch, „wir glauben an die 23 Spieler, die wir für die WM in Japan nominiert haben." Nun, da Böhme tatsächlich noch mitgenommen wird, wird diese Linie ganz offenbar noch geändert.

Insgesamt ist der WM-Kader noch etwas offensiver geworden. Aber während Lars Ricken in keinem seiner bisher 16 Länderspiele die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen konnte, verkörpert Jörg Böhme von jeher die Schalker und deutschen Hoffnungen auf unberechenbare, freche und gewitzte Offensive, wie er sie im Pokalfinale erneut demonstrierte. Da hafteten den gewiss nicht konventionellen Angriffsbemühungen der Leverkusener angesichts seines Freistoß fast etwas Spießiges an. Dieser eine Schuss drehte das Spiel – eine Szene dieser Qualität mit Heinrichs Beteiligung ist mit Heinrich noch nie auch nur gedacht worden. Nach dem Pokalsieg schmetterte Böhme dann in den Armen seines Kumpels Asamoah und nur bedingt nüchtern eine Hymne für den scheidenden Trainer Huub Stevens: „Ohne Holland fahr’n wir zur WM". Diese Vorahnung ist nun wahr geworden.

Der Trainer der argentinischen Weltmeisterelf von 1978, César Luis Menotti, hat vor ein paar Tagen in einem Interview recht abschätzig vom derzeitigen Zustand des deutschen Fußballs gesprochen. Kampf, Konzentration, Ordnung, hierarchische Strukturen - dies, so Menotti, sei immer wieder von deutschen Mannschaften zu hören, aber das sei eben nichts ohne „geniale Pinselstriche kreativer Fußballer". Der deutsche Fußball werde erst wieder an alte Zeiten anknüpfen können, „wenn das Konzept der Effizienz wieder mit der Suche nach dem Abenteuer angereichert wird". Die Spielkunst eines Jörg Böhme, seine Unberechenbarkeit und Dreistheit, verkörpert exakt jenes Abenteuer. Und damit ist der Schalker so etwas wie der Gegenentwurf zu Jörg Heinrich.

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