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ronald

© AFP

Analyse: Sehnsucht nach Helden

Wie bei jedem großen Turnier fragt sich die Fußballwelt vor der EM: Wer wird der große Star? Doch meist erweisen sich die Prognosen als falsch.

Möglicherweise hat man Miroslav Klose immer ein wenig unterschätzt. Möglicherweise besitzt der Stürmer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft eine geheime Lust an der Provokation, die man ihm gar nicht zugetraut hat. Kurz vor der Europameisterschaft wurde Klose die Frage gestellt, wer denn der Superstar des Turniers werden würde. Es gibt ein paar Antworten, mit denen man in diesem Zusammenhang garantiert nichts falsch machen kann. Cristiano Ronaldo zum Beispiel. Oder Franck Ribéry. Der Niederländer Wesley Sneijder vom spanischen Meister Real Madrid. Auch Luca Toni und Michael Ballack. Oder, wenn man etwas progressiver sein will, Karim Benzema, der junge Franzose, und Luka Modric, der Spielmacher der Kroaten. Miroslav Klose aber antwortete: „Philipp Lahm, würde ich sagen.“

Kurz vor Welt- und Europameisterschaften gibt es keine dringendere Frage als die, welcher Spieler wohl zum Superstar des Turniers werden wird. Dabei sind die Prognosen selten verlässlich. Vor der WM 1982 ging es nur darum, ob Diego Maradona aus Argentinien, Deutschlands Kapitän Karl-Heinz Rummenigge oder der Brasilianer Zico zum besten Spieler des Turniers aufsteigen würde. Maradona flog gegen Brasilien mit einer Roten Karte vom Platz, Zico schied in der Zwischenrunde aus, und Rummenigge blieb weit unter seinen Möglichkeiten. Wenn es 1982 bei der Weltmeisterschaft in Spanien überhaupt einen Superstar gab, dann war es der italienische Mittelstürmer Paolo Rossi, der seine Mannschaft zum überraschenden Titelgewinn gegen Deutschland schoss. „Es hängt natürlich auch immer davon ab, wie weit die jeweilige Mannschaft kommt“, sagt Verteidiger Christoph Metzelder. Wie weit eine Mannschaft kommt, hängt allerdings auch davon ab, wie gut ihr überragender Spieler während des Turniers auftritt.

Dass die Frage nach dem Superstar alle zwei Jahre wieder gestellt wird, entspringt auch der Sehnsucht, das immer komplexere Spiel wieder zu entwirren, die komplizierten Systeme so weit zu reduzieren, dass am Ende nur noch ein Spieler übrig bleibt, der alles erklärt. Früher hat noch der Einzelne, der überragende Individualist, eine Mannschaft und ihr Spiel geprägt, heute entscheidet das Kollektiv oder sogar das System, in dem der Einzelne nur noch zu funktionieren hat. Aus der Suche nach dem Superstar aber spricht der Wunsch, den Fußball wieder zu vermenschlichen.

Es wird leicht übersehen, dass die großen Turniere auch früher schon nur in den seltensten Fällen von einem einzigen Spieler geprägt wurden. Der Letzte, auf den das halbwegs zutrifft, war Lothar Matthäus bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien. Die WM 1986 wird immer mit Maradona verbunden bleiben, die EM 1984 mit Michel Platini, das WM-Turnier 1974 mit Johan Cruyff und die Weltmeisterschaft 1970 mit Pele. Aber sonst? Wer war vor vier Jahren der Superstar der Europameisterschaft in Portugal? Angelos Charisteas, der Otto Rehhagels Griechen zum Titel geköpft hat? Traianos Dellas, der letzte Libero des Weltfußballs und Griechenlands Bollwerk gegen die vorherrschende Offensive? Wayne Rooney, die Entdeckung aus England und Verheißung auf eine große Zukunft, die schon wieder vorbei ist? Oder Milan Baros, der tschechische Torschützenkönig des Turniers?

Der moderne Fußball mit seinen ausgeklügelten Defensivstrategien macht es Individualisten immer schwerer, sich gegen die Übermacht des Kollektivs zu behaupten und durchzusetzen; gerade deshalb aber war es nie so leicht für sie, positiv aufzufallen. Auf niemanden trifft das eher zu als auf den Portugiesen Cristiano Ronaldo, der derzeit mit großem Konsens als bester Fußballer der Welt geführt wird. Ronaldo beherrscht das ganz große Spektakel, er verzaubert das Publikum mit wahnwitzigen Dribblings genauso wie mit multiplen Übersteigern. Vor vier Jahren, bei der Europameisterschaft im eigenen Land, war Cristiano Ronaldo noch zu jung, um seine Mannschaft und das Turnier zu prägen. Aber jetzt als bester Torschütze Europas, als Englischer Meister und Sieger der Champions League mit Manchester United? „Oft sind gerade die Spieler, die eine Saison bestimmt haben, nicht mehr die Protagonisten des Turniers“, sagt Christoph Metzelder.

Für Ronaldo ist die EM nur der Höhepunkt nach dem Höhepunkt, eine zusätzliche Belastung nach einer extrem belastenden Saison. Dafür haben Spieler wie er oder Franck Ribéry vom FC Bayern den Vorteil, dass sie mit ihrem offenkundigen Spiel stärker auffallen als die Strategen im Mittelfeld, deren Wert eher von Experten erkannt und geschätzt wird. Bei der WM vor zwei Jahren wurde Zinedine Zidane zum Spieler des Turniers gewählt (vor seinem Ausraster im Finale übrigens); das Fachpublikum hätte diese Ehre eher dem Italiener Andrea Pirlo zukommen lassen, der so etwas wie das Metronom seiner Mannschaft war. Aber Spieler wie Pirlo, der Franzose Claude Makelele oder auch Michael Ballack leiden an einem Auffälligkeitsdefizit. Trotzdem wird der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft immer wieder als möglicher Star der EM ins Spiel gebracht. Überraschenderweise vor allem von den Deutschen.

„Er wird der EM seinen Stempel aufdrücken“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Es wird ein ganz großes Turnier für ihn.“ Bundestrainer Joachim Löw hat sich so ähnlich geäußert, und natürlich werden solche Aussagen nicht ohne Hintersinn getroffen. Wenn Ballack ein großes Turnier spielt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch die deutsche Mannschaft ein großes Turnier spielt. Der Optimismus gründet darauf, dass Ballack in der englischen Premier League, der derzeit besten Liga der Welt, zusätzlich gestählt wurde für die Anforderungen des internationalen Topfußballs.

Im Vergleich zu Cristiano Ronaldo besitzt Michael Ballack zudem den Vorteil, dass er keine komplette Saison mit 50 Pflichtspielen und mehr in den Knochen hat, sondern dank seiner Verletzungspause nur eine halbe. Deutschlands Kapitän besitzt im Moment eine körperliche Präsenz, mit der er sich deutlich von der Masse abhebt – und die bei einem intensiven Turnier wie der Europameisterschaft die Basis für überragende Leistungen ist. Günter Netzer hat nach dem 2:1-Sieg der Deutschen im letzten Testspiel gegen Serbien am vergangenen Wochenende gesagt: „Ich habe Ballack noch nie in einer besseren Verfassung gesehen.“

Christoph Metzelder fände es trotzdem nicht weiter dramatisch, wenn weder Ballack noch Lahm oder Klose bester Spieler der EM werden würde: „Wir haben schon zwei erfolgreiche Turniere gespielt, ohne dass ein deutscher Spieler der Superstar war.“

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