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Andrea Pirlo: Der Löffler von Kiew

Ein Trick von Pirlo leitet im Elfmeterschießen die Wende gegen England ein – Italien ist weiter, und die EM um einen magischen Moment reicher.

Kurz danach blendet die Kamera auf Cesare Prandelli, den italienischen Trainer, der doch kurz vor einem Herzinfarkt stehen muss. Prandelli wischt sich kurz mit der Hand über das Gesicht, er schüttelt den Kopf und lächelt.

Was für ein Ding!

Daniele De Rossi erzählt später: „So etwas Verrücktes fällt nicht mal Francesco Totti ein“, und der ist verrückt genug. Und Andrea Pirlo, Verursacher der ganzen Aufregung, er sagt erst einmal: nichts. Gemessenen Schrittes und ohne das geringste Anzeichen von Freude oder Aufregung geht er zurück zu seinen Kollegen. Als hätte er gerade die Platzwahl gewonnen oder einen Eckball herausgeholt und nicht das verrückteste Tor dieser EM geschossen, wenn auch nur im Elfmeterschießen.

Was Andrea Pirlo in der Nacht zu Montag in Kiew zur Aufführung bringt, wird als magischer Moment dieser Tage in Erinnerung bleiben.

Es ist schon kurz nach Mitternacht und seine Mannschaft beinahe ausgeschieden, als der kleine alte Mann von Juventus Turin ein Signal setzt, wie es nur er setzen kann. Bevor Pirlo nach torlosen 120 Minuten im Viertelfinale vom Mittelkreis Richtung Strafraum aufbricht, sieht es doch beinahe so aus, als könnten die Engländer wirklich mal ein Elfmeterschießen gewinnen. Italiens Riccardo Montolivo hat seinen Schuss neben das Tor gesetzt, was den englischen Torhüter Joe Hart derart aufkratzt, dass er seinen verblüfften Kollegen Gianluigi Buffon im Strafraum abklatscht.

Na warte, denkt sich Andrea Pirlo.

Als Nächster ist Wayne Rooney dran, er drischt den Ball humorlos unter die Latte, und langsam wird es eng für Italien. Dann kommt Pirlo. Das vom Schweiß der 120 Minuten getränkte Haar klebt lang und strähnig an seinen Wangen. Vor ein paar Wochen ist er 33 geworden, und wenige Zeitungen haben während der EM auf das Witzchen verzichtet, dass er eigentlich aussieht wie 44. Zuweilen schleicht Pirlo über den Platz, als könnten ihn seine Füße keine 50 Meter weiter tragen. Alles Mimikry. Der Mann wählt seine Schritte mit Bedacht, die Zahl seiner Fehlpässe tendiert stark gegen null. Und wenn es im italienischen Spiel Momente der Schönheit, der Überraschung, ja der Genialität gibt, dann finden sie ihren Ursprung immer bei Andrea Pirlo.

So ein Moment ist jetzt gekommen.

Joe Hart, der Torwart in dem provozierend roten Dress, gibt auf seinem Kreidestrich den Hampelmann. Er schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und spreizt die Beine, auf und ab und immer wieder, er will den Schützen nervös machen und erreicht genau das Gegenteil. Andrea Pirlo erzählt später: „Ich habe gesehen, wie aufgeregt der Torwart war. Und da habe ich mir gedacht, ich mache die Sache so.“

Di fare così – drei harmlose Wörtchen, kaum angemessen für die Sache, die Pirlo jetzt machen wird. Es dauert ein bisschen, weil der Rasen am Elfmeterpunkt uneben ist und der Ball wegrollt. Vier kurze Schritte. Alle Schützen haben bisher die rechte Ecke gewählt, und dorthin hechtet Hart. Aber Pirlo schiebt den Spann behutsam unter den Ball und chippt ihn mit viel Spin und wenig Tempo in die Mitte des Tores.

„Cucchiaio“, Löffel nennen die Italiener diese Variante des Elfmeters. Der Tscheche Antonin Panenka hat sie erfunden, 1976 im EM-Finale von Belgrad gegen Sepp Maier, der so beleidigt war, dass er dem Schützen am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Das Demütigende für den Torwart ist, dass er aus bester Perspektive mitansehen muss, wie er verladen wird. Auch Joe Hart erfährt diese Erniedrigung. Wie er da so auf dem Rücken liegt und mit den Beinen zappelt und versucht, doch noch einen Fuß an den rotierenden Ball zu bekommen, erinnert er in seinem roten Leibchen an einen im Sand gefangenen Krebs. Im Stadion bricht orkanartiger Jubel aus, die Italiener an der Mittellinie fallen sich um den Hals und Riccardo Montolivo, der tragische Fehlschütze, schickt ein Stoßgebet zum Himmel.

Und Andrea Pirlo? Läuft nach seinem Chip noch ein paar Schritte weiter, er überlegt, ob er den Ball aus dem Netz holen soll, lässt ihn dann doch liegen, wendet an der Fünfmeterlinie und läuft zurück zum Mittelkreis, all das, ohne eine Miene zu verziehen oder den Arm zum Jubeln zu heben oder auch nur ein minimales Signal der Freude zu senden. Aber auch das ist ein Signal, und es kommt an. Vor allem bei den Engländern. Fassungslos registrieren sie, wie dieser verrückte Kerl sich mit einer unvorstellbaren Leichtigkeit und Chuzpe durch das Elfmeterschießen bewegt. Hat dieser Pirlo denn gar nicht darüber nachgedacht, wie sie ihn daheim zerfleischt hätten, wenn der Torwart einfach stehen geblieben wäre? Ist diesen Italienern denn kein Trauma heilig?

Die Nacht nimmt ihren vorbestimmten Lauf. Als nächster Engländer ist Ashley Cole dran, er hat im Champions-League-Finale gegen die Bayern noch souverän verwandelt, aber in Kiew drischt er mit aller Wucht der Verzweiflung an die Latte. Es folgt Ashley Young, dessen Schuss so sanft und unplatziert ist, dass Buffon den Ball mühelos unter sich begräbt. Die von Pirlos Kunststück inspirierten Italiener Antonio Nocerino und Alessandro Diamanti schießen Italien ins Halbfinale. Noch in der Kabine ruft Staatspräsident Giorgio Napolitano an und gratuliert. Und Trainer Cesare Prandelli erzählt, was ihm durch den Kopf ging, als die Kamera ihn einfing: „Ich habe den Arm um meinen Sohn gelegt und mir gedacht: Schön, dass er dieses Elfmeterschießen miterleben durfte, ohne eine Eintrittskarte zu kaufen.“

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