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Wie eine Maschine ohne Seele.

© IMAGO

Andreas Biermann: Vom Himmel ins Abseits

Vor einem Jahr bekannte sich der Fußballprofi Andreas Biermann zu seiner Depression – seine Karriere hat er damit zerstört

Gott hat eine Glatze und trägt einen Kapuzenpulli. Andreas Biermann wird stutzig. Er öffnet seine Augen noch mal einen kleinen Spalt und erkennt, dass das nicht Gott, sondern Holger Stanislawski ist, sein Trainer, der an seinem Bett steht. Ansonsten sieht Biermann nur Schläuche und Maschinen. Und seine Frau. Sie weint. Biermann kann nicht sprechen, sein Körper ist von den Autoabgasen, die er Stunden zuvor inhaliert hat, geschwächt. Trotzdem realisiert Biermann, dass er nicht dort ist, wo er eigentlich sein wollte: im Himmel. Stattdessen ist er auf der Intensivstation eines Hamburger Krankenhauses. An diesem 20. Oktober 2009 hat Andreas Biermann, 29 Jahre, Fußballprofi, versucht, sich das Leben zu nehmen – und hat überlebt.

Ein Jahr später sitzt Biermann im Restaurant einer brandenburgischen Kleinstadt. Berliner Rand, Idylle fernab der Metropole. Hier hat er sich vor einiger Zeit ein Haus gekauft. Sein rotes Haar ist kurz geschoren, er trägt Jeans und eine modische, bunte Jacke. Beim Sprechen gestikuliert er nicht viel, er redet leise und wählt seine Worte mit Bedacht. Ein Lautsprecher, ein Sprücheklopfer war Biermann nie. Etwas aber ist heute anders, wenn Biermann spricht: Er lächelt. Biermann ist gut gelaunt. Heute morgen hat er wie immer eine Tablette genommen. Sie verhindert, dass die Krankheit wieder die Kontrolle über ihn gewinnt. Dazu einmal wöchentlich Gesprächstherapie.

Andreas Biermann leidet unter Depressionen. Er ist der erste Fußballer, der sich nach Sebastian Deisler und dem Selbstmord von Robert Enke öffentlich zu dieser Krankheit bekannt hat. Heute, gut ein Jahr nach seinem Gang an die Öffentlichkeit, fühlt sich Biermann befreiter. Er würde es wieder so machen, sagt er, denn nichts sei für ihn schwerer gewesen als die Last des Versteckens. Biermann sagt aber auch: „Meine Karriere als Profifußballer hat dieser Schritt ruiniert.“ Körperlich und seelisch könne er längst wieder Fußball spielen. Vielleicht nicht ganz oben, aber für die Dritte Liga reiche es ganz bestimmt, sagt Biermann. Doch auch dort will kein Klub das Risiko eingehen, den Außenverteidiger zu holen. „Mein Berater wurde mehrfach von Vereinen mit dem Hinweis auf meine Krankheit abgewiesen“, sagt Biermann. „Keiner traut sich, einen Spieler mit Depressionen zu verpflichten.“ Biermann macht den Vereinen keinen Vorwurf, er kann ihre Vorbehalte zum Teil sogar verstehen. Aber er ist auch enttäuscht. Er hatte sich gerade wegen seines offensiven Umgangs mit der Krankheit eine Fortsetzung seiner Karriere erhofft.

Man erinnere sich: Nach dem Tod von Robert Enke steht die Fußballwelt in Deutschland für einen Moment still. Die Frage, wie es so weit kommen konnte, dass ein Leistungssportler unter dem Druck der Branche zusammenbricht, beschäftigt Funktionäre, Fans und Journalisten – für Tage und Wochen. In den Stunden der Trauer werden Leistungsdruck und Konkurrenzdenken der Gesellschaft gegeißelt und ein menschlicheres Miteinander im Profisport gefordert.

Andreas Biermann weiß, dass das im Grunde nicht möglich ist. Denn Profifußball ist vor allem eines: ein Konkurrenzgeschäft. Ab der zweiten Liga werden die Verträge vieler Spieler immer leistungsbezogener. Auflauf- und Siegprämien sind die Fahrkarten in ein luxuriöses Leben. In den Mannschaften herrscht beim Kampf um Startplätze mehr Gegen- als Miteinander. Wer Schwäche zeigt, verliert. „Das hat sich bis heute nicht geändert“, sagt Biermann. „Es wird sich nie ändern.“ Als Andreas Biermann seine Krankheit öffentlich macht, zeigt er Schwäche.

Aber er hofft, dass sich etwas geändert hat. „In der Zeit nach Enkes Tod herrschte eine große Sensibilität für das Thema Depression.“ Funktionäre ermuntern Spieler, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen, einige machen sich für die Enttabuisierung von Depressionen im Fußball stark. Alles Lippenbekenntnisse, sagt Biermann heute. Wirklich getan habe sich nichts. Der Präsident des deutschen Fußballbundes, Theo Zwanziger, ist da anderer Meinung. „Natürlich darf man nicht denken, dass alles im Fußball innerhalb eines halben Jahres anders wird“, sagt Zwanziger. „Es ist auch eine Stärke der Menschen, Leid auch mal zu vergessen und weiterleben zu können.“ Er ist aber der Meinung, dass es Einsichten gegeben habe. „Depressionen im Leistungssport sind in ihrer Breite und Dimension als Volkskrankheit erkannt. Wichtig ist nun der Prozess des Wachhaltens.“

Bei diesem Prozess würde auch Andreas Biermann gerne mithelfen. Auf einen Anruf oder eine Meldung des DFB-Präsidenten aber wartet er bis heute. „Wenn dieses Thema beim DFB wirklich jemanden interessieren würde, hätte man sich bei mir doch melden können“, sagt er. „Ich würde gerne anderen Spielern helfen.“ Interessant für die Öffentlichkeit aber war Andreas Biermann nur unmittelbar nach Enkes Tod. Er wird in Talkshows eingeladen und redet dort über sein Leben als depressiver Profifußballer. Biermann erzählt, wie die Krankheit bei ihm nach einer schweren Verletzung ausbrach und wie er mehrfach versuchte, sich das Leben zu nehmen. Er berichtet von seiner Flucht ins Glücksspiel und erzählt, wie er über Wochen nur eine Stunde pro Nacht schlief und am nächsten Tag trotzdem auf dem Trainingsplatz stand. „Wie ich das damals geschafft habe, weiß ich bis heute nicht“, sagt Biermann.

Er ist in dieser Zeit eine Maschine: Er funktioniert, aber in seinem Inneren ist keine Seele. Nur Leere. Was der Auslöser dafür ist, weiß Biermann lange Zeit nicht. Ärzte behandeln ihn auf Spielsucht, weil er sich einige Zeit beim Online-Poker versucht. Erst als Teresa Enke, die Witwe von Robert Enke, auf einer Pressekonferenz über die Krankheit ihres Mannes spricht, erkennt sich Biermann in Robert Enke wieder. Er weiß von da an: Ich leide an Depressionen.

Heute ist Biermann vergessen, wie auch die Fußballbranche vergessen zu haben scheint, dass es Depressionen gibt. Leistungsdruck und Konkurrenzdenken bestimmen weiter das Geschäft. Spieler werden nach Fehlern öffentlich kritisiert, Trainer entlassen, und aufgebrachte Manager drohen ihrem Personal mit Gehaltskürzungen, wenn die Leistung ausbleibt.

Gehaltseinbußen hätte Andreas Biermann beim FC St. Pauli auch hingenommen, sagt er. „Doch das Angebot des Vereins war schlicht inakzeptabel.“ Er muss für seine vierköpfige Familie sorgen. Im Sommer lief sein Vertrag aus, verlängert wurde er nicht. Warum, darüber kann Biermann nur spekulieren. Er spricht von Leuten im Klub, „denen das Risiko mit mir wohl zu groß war. Nach meiner stationären Behandlung haben sich der Verein und ich zusammengesetzt, um zu beraten, wie es weitergehen soll. Es war allen klar, dass es in der Bundesligamannschaft nichts mehr für mich wird.“ Also habe er vorgeschlagen, in der zweiten Elf zu spielen und nebenher auf der Geschäftsstelle und als Jugendtrainer zu arbeiten. „Nachdem mich der Verein fünf Monate hingehalten hatte, bekam ich eine Absage“, sagt Biermann.

Beim FC St. Pauli will man sich zu diesem Thema nicht äußern. Dabei brüstet sich der Verein bis heute auf seiner Homepage damit, Biermann bei dessen Therapie zu unterstützen. Dass der Spieler gar nicht mehr im Klub ist, wird nicht erwähnt. Seit seinem Vertragsende im Sommer hat Biermann nichts mehr von den Hamburger Verantwortlichen gehört. Erkundigungen nach seinem Gesundheitszustand: Fehlanzeige. Auch zu den alten Mannschaftskameraden hat er keinen Kontakt mehr. Nur Stürmer Marius Ebbers hat neulich kurz angerufen – zum Geburtstag. Er und Ebbers haben früher gern zusammen gepokert, sie wurden „so etwas wie Freunde“.

Über seine Probleme hat Biermann nie mit Ebbers geredet. „Die Beziehungen zwischen den Spielern gehen selten so weit, dass man über Persönliches redet“, sagt er. Biermann vertraut sich damals nur Holger Stanislawski an, für die Unterstützung ist er dem Trainer heute noch dankbar. Unlängst wollte Biermann vom Verein ein Statement für sein Buch „Rote Karte Depression“ einholen, in dem er gemeinsam mit dem Hamburger Journalisten Rainer Schäfer über seine Krankheit berichtet. Es soll im Frühjahr erscheinen. St. Paulis Sportchef Helmut Schulte und Stanislawski erklärten sich nach langem Zögern zu einem Treffen mit Schäfer bereit. Biermann selbst blieb lieber zu Hause und arbeitete weiter am Buch. Die Arbeit als Autor mache ihm Spaß, sagt er, sie helfe ihm, besser mit der Krankheit fertig zu werden. Ein Ersatz für den Fußball sei das Schreiben nicht. Seinen Zustand beschreibt Biermann als stabil. „Ich kann mich manchmal schon über Kleinigkeiten freuen. Zum Beispiel über Dinge, die meine Kinder machen.“

In solchen Momenten ist er dann froh, nicht zu wissen, wie Gott tatsächlich aussieht.

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