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Sport: Angekommen in der neuen Heimat

Warum die Bronzemedaille im Judo für die gebürtige Russin Julia Matijass nicht nur eine Medaille ist

Eduard Matijass hat es in Osnabrück vor dem Fernseher nicht mehr ausgehalten und ging ins Nebenzimmer. Den Judokampf seiner Frau um eine olympische Bronzemedaille konnte er aus Nervosität nicht mehr ansehen. „Mein Mann ist Judotrainer“, erklärt Julia Matijass einen Tag später, „wenn ich verliere, ist zwei Wochen Stress zu Hause.“ Wenn sie nach den Olympischen Spielen nach Hause kommt, wird sich der Stress jedoch in Grenzen halten. Irgendwann rief der achtjährige Sohn Martin seinen Vater wieder ins Wohnzimmer zurück. „Mama hat gewonnen.“

Die Familie Matijass hat sich 1995 auf eine lange Reise gemacht. Damals verließ Eduard Matijass, ein Russlanddeutscher, seine sibirische Heimatstadt Surgut, um in Deutschland sein Glück zu finden. Julia folgte ihm einige Monate später. Die erste Zeit in Osnabrück war schwierig, sie verstand die Sprache nicht, ihr sowjetisches Sportlehrerdiplom wurde nicht anerkannt. „Nach einem Monat wollte ich wieder nach Hause.“

Neun Jahre später sitzt Julia Matijass auf dem Podium im Deutschen Haus in der Nähe der deutschen Radstars. Sie hat einen roten Rucksack dabei, in dem die Bronzemedaille liegt, die sie am Vortag bekommen hat. Es ist die erste Medaille für die deutsche Mannschaft in Athen. Jan Ullrich kann nach dem ersten Wettkampftag keinen solchen Erfolg vorweisen, trotzdem nähert sich Matijass nach der Pressekonferenz dem deutschen Radstar und bittet ihn um ein Autogramm. „Genieße das“, sagt Ullrich, „es kommen auch wieder schlechtere Zeiten.“

Die besseren Zeiten begannen für Julia Matijass, als sie entdeckte, dass es in ihrer neuen Heimat einen Verein gibt, der ihren Sport auf hohem Niveau betreibt. „Ein Zufall“, sagt sie. Eigentlich hatte sie mit ihrem Sport, in dem sie 1989 sowjetische Juniorenmeisterin wurde, aufhören wollen. Doch nach der Geburt ihres Sohnes besuchte sie Anfang 1996 erstmals ein Training der Crocodiles Osnabrück. „Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.“ Jürgen Füchtmeyer erinnert sich noch gut an diesen Tag. „Sie trainierte mit den männlichen Jugendlichen“, sagt der niedersächsische Landestrainer, „mir war sofort klar, wen ich da vor mir hatte – eine absolute Perle.“ Er meldete seine neue „Perle“ zu einem Turnier in London an. Doch damit begannen die Schwierigkeiten. „Sie musste als Russin starten“, sagt Füchtmeyer. „Wir mussten die Reise bezahlen, aber den Sieg holte sie für Russland.“ Drei Jahre dauerte es noch, bis Julia Matijass das „RUS“ auf ihrem Rücken gegen ein „GER“ austauschen durfte. Im Kampf mit den Behörden unterstützte Füchtmeyer sie kräftig. „Es war gar nicht so schwierig, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen, viel schwieriger war es, die russische abzugeben“, sagt der 47-Jährige, „das ist der Hammer.“ 1999 aber hatten sie es geschafft. Es hat sich gelohnt. „Ich habe 20 Jahre lang nicht geweint“, sagt Füchtmeyer, „aber am Samstag.“ Das war der Tag, an dem sie Bronze gewann.

Es werden nicht mehr viele emotionale Momente für die beiden kommen. Die Spiele 2008 sind für die 30-Jährige bereits zu weit weg. Im nächsten Jahr nach der WM in Brasilien wird sie eine Lehre als Verwaltungsfachangestellte bei der Stadt Osnabrück beginnen. „Ich muss den Einstieg in das Berufsleben schaffen“, sagt Julia Matijass. Ihr Deutsch ist nahezu perfekt, der Sohn kann gar nicht Russisch sprechen, und nun holte Julia Mattijas sogar eine Medaille für ihre neue Heimat. Die Reise ist zu Ende.

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