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Sport: Auf der Spielwiese

Wenn eine Frau zum ersten Mal ins Stadion geht, lernt sie nicht viel über Fußball – aber einiges über Männer. Ein Erlebnisbericht

Um 15 Uhr 27 laufen die Männer auf den Rasen. „Und für wen bist du?“, fragt meine Freundin. Sie sagt, ich müsse mich für eine Mannschaft entscheiden, sonst mache das doch keinen Spaß. Sie kennt sich da aus, sie ist mit ihrem Ex-Freund oft zu Fußballspielen gegangen. Für mich ist dies das erste Mal im Stadion. Dortmund oder Hertha, ich sag’: „Berlin!“ Meine Freundin nimmt die anderen, die Gelben.

Dass ich hier stehe, auf der Tribüne des Berliner Olympiastadions, an diesem Frühlingstag, hat mir schon vor Spielbeginn einige Erlebnisse beschert. Die Guten: Schweizerdeutsch in der proppenvollen S-Bahn, die mir liebste Touristensprache. Gemischtes Volk auf dem Weg zum Stadion: Väter mit Söhnen, Frauen mit Brillen, deren Fassungen billiges Leopardenmuster tragen, und welche mit Gucci-Emblem. Alt, jung, Proletariat und schickes West-Berlin, es mischt sich, so, wie das auf Volksfesten sein sollte. Die Schlechten: Männer mit Röcken aus Fußballschals. Die Unheimlichen: die Nazi-Architektur des Olympiastadions. Sie sticht ins Herz, ist so klar, so gewaltig, so glattgrausam. Die Peinlichen: Der schmächtige Mann, der „Borussia, ihr Judenschweine!“ singt, und die vielen, die nicht aufschauen, die nichts sagen, die mild oder mitleidig lächeln.

Alle Vorurteile scheinen schon vor Anpfiff des Spiels übertrumpft zu sein. Dabei bin ich hierhergekommen, um endlich mal zu verstehen, weshalb Fußball so toll ist. Schließlich bin ich diejenige – und jetzt ist es raus, die Schande – diejenige, die weniger als drei Spiele der WM gesehen hat. Nicht entgangen ist mir dennoch, dass Fußball etwas mit Leidenschaft zu tun hat. Deshalb versuche ich es. Und stehe an diesem Tag im Olympiastadion. Weil man sich Leidenschaft im Leben nicht entgehen lassen sollte.

Die Zuschauer auf den Tribünen sehen aus wie ein einziges schwappendes, waberndes Ding. Der Einzelne ist ein Teilchen. Klitzeklein. Diffus bedrohlich fand ich am Fußball-Fan-Dasein immer das Aufgehen in der Masse. Dieses Gefühl ist jetzt auch wieder da. Es hat etwas von Willkür, von mitmachen und später denken. Ich versuche, es heute auszublenden.

Da unten auf dem Spielfeld ist jeder separiert. Die Spieler schrumpfen zu kleinen bunten Pünktchen, sehen aus wie M&M’s, die wahllos umherkullern. Letztens, als meine Freundin und ich „Deutschland. Ein Sommermärchen“ guckten, konnten wir noch Männer vergleichen: Sie fand den Lehmann gut, „pure Männlichkeit“, ich so gar nicht, dieses Biedere, diese Löckchen, nein. Ich erzählte, wie ich mal für fünf Minuten Ballack interviewen durfte, Thema: Kinderfilme. Dieser Mensch sah aus wie ein überdimensionaler Barbie-Mann, unwirklich. Meine Freundin sagte: „Der Ballack ist ein Arsch.“ Das war während der Szene, in der die Mannschaft berät, wie sie den Fans dankt, und Ballack keinen Bock darauf hat. Aber selbst dieses Männergeschwafel geht von hier oben nicht, weil: Da sind ja nur M&M’s zu sehen. Schlimm ist das nicht. Denn das, was Frauen über Fußballspieler sagen, wird von Männern allgemein überschätzt. Da fallen mal ein, zwei Sätze, und das war es. Und nein, wir sprechen auch nicht über einzelne Körperteile.

Das Spiel. Ich verstehe: Gut ist, wenn die Männer in die Richtung des Tors auf unserer Tribünenseite rennen.

Einen Kommentator hätte ich jetzt gern. Einen Mann im Ohr, wie es ihn im Reitstadion in Aachen (in diesem Metier kenne ich mich besser aus) gibt, da gibt es Miniradios mit Ohrstöpsel, durch die ein Kommentator erklärt, was die Prüflinge im Viereck gut oder falsch machen. Jemanden, der die Spieler erkennbar macht: „Der Läufer mit dem O-Bein-Gang, das ist der Soundso.“ Und sagt, worauf ich achten soll: „Sehr schwierig, so zu dribbeln, das können vielleicht zwanzig in Deutschland!“ Worüber soll ich staunen, wenn ich bloß ein Hin-undher-Gerenne erkennen kann?

Plötzlich passiert etwas: Einer fällt hin, alle anderen stehen drum herum.

Wahrscheinlich ist das Zugucken nur eine Frage der Übung. Es ist ja keine Kunst, Flanke und Abseits definieren zu können. Allerdings ist die Voraussetzung zur Übung das Interesse, sonst wird jegliches Üben zäh. Und für das Interesse braucht es wohl eine ordentliche Fan-Sozialisierung. Die Stecktabellen an den Kinderzimmerwänden meines Bruders fand ich aber immer schrecklich langweilig. Mir fehlt vielleicht das Fan-Gen, das einen dafür prädestiniert, eine Gruppe zu suchen, die man uneingeschränkt unterstützen will. Zu diesem Status hat es in meinem Leben nur einmal für zwei Jahre Greenpeace gereicht. Vielleicht sind Fußballfans absolutistischer.

Ich langweile mich. Nippe am teuersten schlechten Kaffee, den ich je gekauft habe. Wäre ich im Auto, würde ich mir Nummernschilder angucken. Wäre ich an der Bushaltestelle, würde ich SMS tippen. Stattdessen überlege ich jetzt, wo der Ball als Nächstes hinfliegt. Nur so, weil es so langweilig ist. Auf einmal macht das Spaß. Da lassen sich Berechnungen anstellen wie beim Pool-Billard, zusätzlich mit Fremdkörper-Joker: Zack, einer von den Gelben stoppt den Flugball mit der Brust. Also ich würde jetzt jubeln, wäre ich für Gelb, das sah doch cool aus. Aber die Profi-Fans um mich herum regen sich nicht.

Was ich gut finde: der Tusch, der alle paar Minuten vom Band kommt, ein Kirmes-Tusch, kitschig und deftig. „Wann wird der gespielt?“, frag’ ich meine Freundin; nach tollen Spielzügen, die ich Laiin nur nicht erkenne, vermute ich. Sie sagt: „Der kündigt die Werbeblöcke an.“

Halbzeit. Am Toilettenwagen sagt ein Mädchen zu ihrem Freund: „Hach, is dit schön, und du musst dich janz hinten anstellen!“ Zum ersten Mal müssen Männer vor Toiletten Schlange stehen, und Frauen sind sofort dran. Super.

Das Handy piept, eine SMS: „Wir sind in Block XY. Kommt ihr?“, schreibt ein Freund. Wir kommen, suchen, sehen bratwursttragende Väter, schwitzende Getränkeverkäuferinnen, hören Lachen. Wir finden niemanden, rennen wieder zurück. Die zweite Halbzeit hat angefangen – und das erste Tor ist gefallen! „Wie blöd, keine Wiederholung“, sagt meine Freundin.

Ein Mensch mit Ray-Ban-Brille brüllt: „Hoeneß raus!“ Weshalb eigentlich, frage ich mich, die Spieler eiern doch auch rum. Politik, sagt mein Nachbar, und erzählt Anekdoten von vor zehn Jahren. Ein Mann, der mit Frau und Tochter auf der Tribüne hockt, schreit auch: „Hoeneß raus!“ Seine Frau nickt ihm zu. Er stützt die Ellbogen auf die Oberschenkel, die er weit auseinander vor sich abstellt. Dann: ein Foul. Alphatier-Mann springt auf, boxt in die Luft, schreit. Frau springt auf. Tochter verschränkt die Arme.

Eins bleibt, was man beim Beobachten des Zusammenrottens, Angreifens, Jubelns lernt: wie der Mann an sich funktioniert. Fußball ist eine Spielwiese für Urinstinkte. Die werden im geselligen Zusammenhocken, in lockeren Zweckgemeinschaften befriedigt. Vor und neben mir sitzen solche Jungsgruppen, um die dreißig Jahre alt, sie quatschen, rauchen, trinken. Und gucken gar nicht die ganze Zeit aufs Spielfeld. Sie nutzen das Spiel eher als Kulisse für ihr Nachmittagskränzchen. Das erinnert an Delfinschulen, so nennt man den Verbund von Delfinen, die ab und zu gemeinsam unterwegs sind. Die treffen sich auch in Buchten, um gemeinsam dort zu verweilen. Ohne dass sie eine Familie wären, wie es bei Walen der Fall ist. Delfine treffen sich einfach so, ohne Ansprüche. Ist doch gut.

Irgendwann, als es egal ist, wie lange es noch dauert oder nicht, ist das Spiel vorbei, eins zu null für Dortmund. Ich habe nicht gejubelt.Vielleicht lag die Langeweile ja gar nicht an meiner Unkenntnis, sondern in der Sache selbst. In Fanblogs zum Spiel stehen später Wörter wie: unterirdisch, kampflos, nullkommanichts, armselig.

Das Gefühl danach ist ähnlich dem nach einem Rummelbesuch: Leere. Alles blinkt, ist laut, aber es berührt nicht. „Zum Fußball muss man mit jemandem gehen, der richtig Fan ist“, sagt meine Freundin. „Nur dann macht es wirklich Spaß.“ Leidenschaft kann man eben nicht üben. Man kann sich höchstens anstecken lassen. Und da sind die Menschen eben unterschiedlich resistent. Vielleicht ruft meine Freundin fürs nächste Spiel doch ihren Ex-Freund an.

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