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Sport: Aus der Traum

Im Kunstturnen wird die Note 10 abgeschafft

Berlin - Bruno Grandi, Italiener und Weltverbandspräsident der Kunstturner, hat die „große Revolution“ schon vor Monaten angekündigt. Nun soll sie am Rande der am Dienstag in Melbourne beginnenden Turn-WM noch einmal beraten und dann endgültig verabschiedet werden. Was Grandi und das Technische Komitee des Weltverbandes FIG vorhaben, würde das Kunstturnen tatsächlich verändern. In welche Richtung? Das ist – wie bei allen Revolutionen – die Frage.

Es geht um das Bewertungssystem, das seit jeher kompliziert ist und jetzt vereinfacht und vor allem gerechter werden soll. Kurz und schmerzlos ausgedrückt: Die 10,0 – beim Kunstturnen bisher Traumnote und Maß aller Dinge – gibt es nicht mehr. An ihre Stelle treten eine getrennte Schwierigkeits- und Ausführungsnote, die zusammengerechnet über die 10,0 hinausgehen können. Zwei Kampfrichter bestimmen den Schwierigkeitswert, indem sie die zehn höchstwertigen Teile der Übung zusammenzählen. Und sechs Kampfrichter bewerten die Ausführung mit einer Note von 0 bis 10 (die höchste und niedrigste Wertung wird gestrichen). Ein System, das sich schon beim Wasserspringen bewährt hat – und mit dem sogar die Zuschauer einigermaßen zurechtkommen.

Die „Revolution“ kommt eigentlich von noch weiter oben. Nach den skandalösen Umständen beim Reckfinale der Olympischen Spiele 2004 in Athen hatte IOC-Präsident Jacques Rogge Grandi gedroht, dass Turn-Wettbewerbe aus dem olympischen Programm gestrichen werden könnten, sollte die Bewertung nicht transparenter werden. Dass der Italiener einen großen Teil der angestrebten Veränderungen nun für sich beansprucht, entspricht eher einem Verhalten wie es Sonnenkönigen eigen ist. Dass ihn das eigene Technische Komitee in einigen Punkten korrigiert hat, kommentiert er gönnerhaft: „Ich bin nicht Ratzinger.“ Ob Papst oder Sonnenkönig, Grandi glaubt, vorhersehen zu können, was die Änderungen bringen. „Die Revolution betrifft nicht die Sportart, sondern die Kampfrichter, die von nun an hervorragende Fachleute sein müssen.“ Die neuen Kriterien führten dazu, dass nicht Risiko, sondern perfekte Ausführung belohnt werden. „Der Kunstturner wird wieder Artist, nicht Akrobat sein“, sagt der FIG-Präsident.

Genau das bezweifeln führende Fachleute, zu denen der deutsche Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch und Eberhard Gienger, Reck-Weltmeister 1974 und Vizepräsident des Deutschen Turnerbundes (DTB), gehören. Vor allem die addierte Schwierigkeitsnote ist umstritten. Gienger fürchtet nicht nur ein weiteres Spezialistentum („Man wird schon beim Einmarsch erkennen, wer die Boden-, die Ringe- und die Reckturner sind.“), sondern auch eine neue Monotonie in den Übungen. Noch schwerer wiegt freilich die Sorge um die Gesundheit der Athleten. „Die Verletzungsgefahr steigt“, sagt Gienger, „nicht so sehr im Wettkampf – aber im Training werden die Athleten auf Teufel komm raus auf Schwierigkeit gehen.“ Beim DTB ist man in diesem Punkt sensibel, denn der Cottbuser Turner Ronny Ziesmer sitzt seit einem Trainingsunfall im Sommer 2004 im Rollstuhl.

„Alles hängt davon ab, ob die Ausführungskampfrichter gnadenlos auch die kleinsten Schlampereien abziehen, so dass sich das Risiko nicht lohnt“, sagt Gienger. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die Kampfrichter ihrerseits hart kontrolliert werden. Gienger, selbst jahrelang internationaler Kampfrichter, weiß, wovon er spricht. Bei den Turn-Wertungen der Vergangenheit ging vieles nicht mit rechten Dingen zu.

Die neuen Regeln sollen, vorausgesetzt sie finden Zustimmung, im Frühjahr 2006 zuerst beim Weltcup in Cottbus, dann bei den Europameisterschaften im griechischen Volos gelten.

Jürgen Roos

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