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Sport: Baumann-Freispruch: Zähneknirschen und Unverständnis - DLV-Chef Digel befürchtet enorme Folgen durch das Urteil

Ein stümperhafter Kontrolleur hat Dieter Baumann aus dem Netz der Dopingjäger befreit und damit das gesamte Kontrollsystem mehr denn je in Frage gestellt. Die "geradezu unglaubliche Sorglosigkeit" im Umgang mit den Urinproben war nach der am Freitag komplett veröffentlichten 25-seitigen Begründung ausschlaggebend für den Freispruch des Olympiasiegers durch den Rechtsausschuss des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV).

Ein stümperhafter Kontrolleur hat Dieter Baumann aus dem Netz der Dopingjäger befreit und damit das gesamte Kontrollsystem mehr denn je in Frage gestellt. Die "geradezu unglaubliche Sorglosigkeit" im Umgang mit den Urinproben war nach der am Freitag komplett veröffentlichten 25-seitigen Begründung ausschlaggebend für den Freispruch des Olympiasiegers durch den Rechtsausschuss des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Demnach waren die Proben wegen der Lagerung bei viel zu hohen Temperaturen von Bakterien befallen worden, bevor die Untersuchungen abgeschlossen waren. Baumann will nun "meine ganze Kraft einsetzen, um mich in den nächsten zwei Monaten sinnvoll auf Sydney vorzubereiten".

Der Deutsche Sportbund (DSB) nahm das Urteil nach Worten seines Präsidenten Manfred von Richthofen "mit Zähneknirschen zur Kenntnis". DLV-Präsident Helmut Digel meinte: "Ich sehe nur, dass die Athleten Zutrauen zum System verlieren. Sie können sich nicht sicher sein, dass ihre Proben richtig behandelt werden." Die skandalösen Begleitumstände des Kontrollverfahrens kommen durch die Rechtsausschuss-Begründung an den Tag. "Weder die Lagerung noch der Transport entsprachen den Vorgaben der IAAF-Verfahrensrichtlinien für Dopingkontrollen", heißt es in dem vom Ausschuss-Vorsitzenden Wolfgang Schoeppe (Ansbach), Hans-Peter Breit (Homburg/Saar) und Ferdinand Sahner (Gaggenau) unterzeichneten Urteil.

Grobe Fehler unterliefen dem Kontrolleur, der am 19. Oktober und 12. November 1999 unangemeldet zur Abnahme von Urinproben in Baumanns Wohnung in Tübingen erschien. Über die Lagerung der Proben sagte der Kontrolleur der Kriminalpolizei: "Ich weiß nicht, ob ich sie im Kühlschrank hatte oder einfach im Unterschrank meines Küchenschranks. Normalerweise sind die Proben drei bis vier Tage bei mir gelagert. Anschließend verpacke ich sie in eine Plastiktüte und schicke sie nach Köln und Kreischa." Laut Professor Müller sei diese Verfahrensweise "kein Problem". Üblich sei auch, dass die mit dem Transport beauftragte Firma keinen Kühlwagen benutzt habe. Allerdings steht dies im krassen Gegensatz zu den Verfahrensrichtlinien für Dopingkontrollen.

Die wahrscheinlich durch die falsche Lagerung verursachte Bakterienaktivität wurde am 8. Februar von Wilhelm Schänzer im Kölner Labor nachgewiesen. Alle folgenden Untersuchungen zum Nachweis von Baumanns Unschuld verloren damit ihre Aussagekraft, was der Rechtsausschuss als "Beweisvereitelung" durch den DLV auslegte. Baumann sei die Möglichkeit genommen worden, den für eine Verurteilung sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern. Der Olympiasieger behauptet, durch eine Manipulation seiner Zahnpasta von dritter Seite "positiv gemacht" worden zu sein.

Baumann ist in diesem Verfahren trotz allem offenbar nur ganz knapp an einer Sperre vorbeigeschrammt. Obwohl Schänzer in seinem Gutachten festgestellt hatte, dass das Norandrostendion mit "hoher Wahrscheinlichkeit" über die Mundschleimhaut aufgenommen wurde - im Klartext: über die Zahnpasta, was die Anschlagstheorie bekräftigt hätte -, hätte diese Einschätzung eine Sperre nicht verhindert. "Das war uns nicht genug", sagte Breit gegenüber dem Tagesspiegel. Wenn der Nürnberger Pharmakologe Sörgel, mit einer anderen Messmethode, zum gleichen Ergebnis gekommen wäre wie Schänzer, nämlich: "Hohe Wahrscheinlichkeit", dann, sagt Breit, "wäre er gesperrt worden. Wir wollten Gewissheit haben, dass es keine andere Möglichkeit als die Zahnpasta gab. Die anderen Indizien hätten in diesem Fall nicht für einen Freispruch gereicht." Da die Proben aber unbrauchbar waren, konnte sie Sörgel nicht untersuchen.

Damit, sagt Breit, habe man nun aber andere Indizien würdigen müssen. Das stärkste, das für einen Anschlag gesprochen hätte, seien die Ergebnisse der Kripo Tübingen gewesen. "Die Zahnpastatuben wurden mit der gleichen Maschine geschlossen, obwohl sie verschiedene Hersteller hatten. Zudem war die Tube unbeschädigt. Festgestellt wurde zudem, dass nur die roten Streifen der Zahnpasta mit dem Dopingmittel behandelt worden waren. Hier wurde mit High-Tech vorgegangen." Allerdings hätte ja auch Baumann einen Experten beauftragen können, um mit der Tube vom Doping abzulenken. "Damit", sagt Breit, "wäre er lebenslang erpressbar gewesen. Das macht keinen Sinn. Er will ja später als Funktionär arbeiten." Zu dem Umstand, dass Baumann auch im September bei einem Wettkampf positiv getestet wurde, sagte Breit: "Es steht fest, dass die Dopingsubstanz kurz vor dem Start eingenommen wurde. Baumann hatte erzählt, dass er sich stets vor Rennen die Zähne putzt. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, dass er das auch macht, wenn er weiß, dass die Zahnpasta verseucht ist und er mit einem Urintest rechnen muss. Das wäre so, als würde ein Autofahrer kurz vor einer erkennbaren Radarfalle noch Gas geben."

Die höchst umstrittene Schamhaar-Analyse, die von vielen namhaften Experten als ungeeignet für den Nachweis einer positiven Dopingprobe bezeichnet wird, bestellte der Rechtsauschuss vor allem aus einem Grund. Breit: "Damit wollten wir vor allem die Glaubwürdigkeit von Baumann testen. Hätte er abgelehnt, dann wäre die erschüttert gewesen. Aber die Analyse kann natürlich keine positive A- oder B-Probe ersetzen."

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