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Willig

© Imago

Behindertensport: Schock am Trainingsende

Die Nominierung deutscher Schwimmer für die Paralympics erfolgt auf abenteuerliche Art und Weise - und könnte ein juristisches Nachspiel haben.

Matthias Ulm war gestern am frühen Abend ausnahmsweise nicht in der Schwimmhalle des Sportforums Hohenschönhausen. Er wusste nur, dass sein Athlet Martin Schulz gerade durchs Wasser pflügte. Training für die Paralympics in Peking, der 17-Jährige ist ein sehr guter Lagenschwimmer. „Er weiß es wohl noch gar nicht“, sagte der Trainer Ulm. „Er erfährt es, wenn er aus dem Wasser steigt.“ Martin Schulz, der dachte, er würde sich auf Peking vorbereiten, erfuhr dann auf diese Weise das Neueste: Er muss zu Hause bleiben. Die Entscheidung wurde um 17.30 Uhr bekannt. Ulm übermittelte sie einem Betreuer in der Halle.

Martin Schulz ist das Opfer einer abenteuerlichen Olympia-Nominierung. Eine Nominierung, geprägt von Schlampereien, juristischen Drohungen und blankem Zynismus. Heute muss der deutsche Behindertensportverband dem Internationalen Olympischen Komitee mitteilen, wer für Deutschland in Peking schwimmen wird. Gestern um 17.30 Uhr erst stand fest, dass Nikolai Willig aus Berlin mitdarf und Schulz zu Hause bleiben muss. Eine der Mails mit dieser Nachricht ging an die Berliner Juristin Karla Vogt-Röller. Die Rechtsanwältin vertritt Willig. Sie hatte mit einer Einstweiligen Verfügung gedroht, sollte ihr Mandant nicht für Peking nominiert werden.

Er darf nach Peking, die sechsköpfige Nominierungskommission entschied gestern am späten Nachmittag mit 4:2, dass stattdessen Schulz zu Hause bleiben muss. Und die Begründung, aufgeführt in einem mehrseitigen Anhang, klingt regelrecht zynisch. Nach Tagesspiegel-Informationen steht im Kern drin: Die Schadensersatzforderungen von Schulz werden geringer sein als die von Willig.

Grundproblem der unseligen Geschichte ist eine Zahl. Es gibt in Peking im Schwimmen nur 14 Startplätze bei den Männern für die Deutschen. Wer mit will, musste eine Normzeit erfüllen. Der Berliner Niels Grunenberg war einer, der sie erfüllte. Doch für Peking wurde der Spezialist über 100 Meter Brust bei der Sitzung der Nominierungskommission am 22. Juni nicht benannt. Warum? „Das weiß keiner so genau“, sagt Ralf Otto, Leistungssport-Koordinator des Landesverbands Berlin. Er sitzt zugleich in der Kommission. Grunenberg sei vom Chef-Bundestrainer gar nicht vorgeschlagen worden. Offenbar, vermutet Otto, „weil er keine Medaillenchancen hat“.

Fünf Tage später hatten sich Grunenbergs Perspektiven nicht geändert, aber der Athlet war plötzlich trotzdem nominiert. Der geschockte Schwimmer hatte Vogt-Röller eingeschaltet, und die drohte dem deutschen Verband mit einer Einstweiligen Verfügung. Darauf schrieb dessen Anwalt, es sei ein Fehler gewesen, ihn nicht zu nominieren.

Nur gab es aber für 14 Plätze plötzlich 15 Bewerber. Und nun wurde völlig unerwartet erst mal der 17-jährige Willig gestrichen. Und zwar mit einer „abenteuerlichen Begründung“ (Otto). Denn Willig hatte bei den Berlin-Brandenburgischen Meisterschaften die Norm über 100 Meter Schmetterling erfüllt. „Er hat aber“, sagt sein Trainer Ulm, „später einer Trainerin gegenüber zugegeben, dass er einen regelwidrigen Stil hatte.“ Der Schiedsrichter allerdings hatte davon nichts bemerkt, Willig wurde nicht disqualifiziert. Auch bei der Nominierungssitzung war ein Stilfehler „kein Thema“, sagt Otto. Doch kurz nach Grunenbergs erfolgreichem Veto erfuhr Willig plötzlich von Trainern, er sei von der Nominierungsliste gestrichen. Begründung: Er sei damals regelwidrig geschwommen.

„Aber eine nachträgliche Disqualifikation ist nicht möglich“, sagt Ulm. Weshalb kam überhaupt plötzlich diese Begründung ins Spiel? „Naja“, sagt Otto, „wer einen Grund sucht, der findet.“ Die absurde Begründung, sagt Vogt-Röller, habe ihr der Anwalt des Verbandes am Mittwoch mitgeteilt. Kurz darauf habe der Jurist dann erklärt, Willig sei doch noch nicht definitiv gestrichen. Der erforderliche Beschluss fehle noch. Der Verbandsanwalt war nicht zu erreichen.

Nun kam auch Martin Schulz ins Spiel. Denn der wurde nominiert, obwohl er auf zwei Strecken die Normzeit knapp verpasst hatte. Damit war er angreifbar. „Aber für die Nominierung spielen noch andere Punkte eine Rolle“, sagt Ulm. „Ohne ihn hat die Lagenstaffel keine Medaillenchance. Ich hätte aus sportlichen Gründen im Zweifelsfall lieber Martin als Nikolai mitgenommen.“ Aber es geht nicht um Sport. Es ging ums Finanzielle.

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