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Immer in der richtigen Ecke.

© IMAGO

Sport: Bei uns hatte keiner Allüren*

Mein WM-Moment (13) Ein halbes Jahr vor der WM in Mexiko muss Jean-Marie Pfaff operiert werden, er fällt vier Monate aus, wird gerade noch rechtzeitig fit – und verhilft seiner Mannschaft im Elfmeterschießen gegen Spanien zum Einzug ins Halbfinale

Die Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko, wie könnte ich die je vergessen. Da gab es mehrere Momente, an die ich mich gerne erinnere. An unsere drei K.-o.-Spiele zum Beispiel. Die waren Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn! Erst das Achtelfinale gegen das große Russland, das wir unerwartet in der Verlängerung für uns entschieden haben. Dann das Elfmeterschießen gegen Spanien. Das war auch ein super Moment. Der Sieg hat uns ins Halbfinale gebracht und uns die Ehre verschafft, gegen Maradona spielen zu dürfen. Dass wir das Spiel dann verloren haben, das ist nun wirklich keine Schande.

In Mexiko haben wir damals gar nicht mitbekommen, was in unserer Heimat los war. Erst als wir wieder in Brüssel gelandet sind, ist uns das bewusst geworden. Ich kannte solche Menschenansammlungen ja vom Marienplatz in München, wenn wir mit Bayern einen Titel geholt hatten. Trotzdem war es nach unserer Rückkehr aus Mexiko etwas anderes. Diese Dankbarkeit der Menschen. Wir haben eben nicht nur für einen Verein gespielt, sondern für das ganze Land. Und damals war Belgien ein Land.

Beinahe wäre ich bei der WM gar nicht dabei gewesen. Am 2. Dezember 1985 musste ich in München an der Leiste und den Aduktoren operiert werden. Mehrere Monate bin ich ausgefallen. Unser Trainer Guy Thijs hat während der Reha zu mir gesagt, wenn ich bei den Bayern nicht spiele, könne er mich auch nicht mit nach Mexiko nehmen. Dabei hatte ich in der Relegation gegen Holland super gehalten. Aber so ist das im Sport. Wenn es läuft, bekommst du jede Unterstützung, die du haben willst; wenn es nicht läuft, darfst du von anderen nichts erwarten. Das war für mich natürlich nicht besonders angenehm. Aber ich habe immer an mich geglaubt, immer gewusst, dass ich es noch schaffe. Am 6. März 1986 stand ich wieder im Tor – und ich habe bis zum Ende der Saison riesig gespielt. Wir haben mit den Bayern die Bremer noch abgefangen, sind Deutscher Meister geworden und haben in Berlin den DFB-Pokal gewonnen. Die WM 1986 war die Krönung meiner harten Arbeit, sie war der Lohn dafür, immer weiterzumachen und immer besser zu werden. Darauf bin ich sehr stolz.

Du musst einfach immer an dich glauben. Das war auch so, als wir nach Mexiko gefahren sind. Natürlich ist Belgien ein kleines Land, aber unsere Mannschaft war nicht nur individuell stark besetzt, wir waren auch stark im Kollektiv. Es gab bei uns niemanden, der sich für besser oder größer hielt als die anderen. Keiner hat irgendwelche Starallüren ausgelebt. Normalerweise ist es ja so, dass die Stars beim Essen immer zusammensitzen. Bei uns war das nicht so. Mal hast du an diesem Tisch gesessen, mal an einem anderen.

Die Spanier besaßen damals auch eine starke Mannschaft. Im Achtelfinale hatten sie Dänemark 5:1 geschlagen. Zu diesem Spiel ist unsere Mannschaft geschlossen mit dem Bus nach Queretaro gefahren, um sich unseren nächsten Gegner anzuschauen – nur ich war nicht dabei. Ich lag mit Magenkrämpfen im Bett, Montezumas Rache hatte mich erwischt. Zwei Tage konnte ich nicht trainieren, und als ich wieder auf dem Platz stand, passierte gleich das nächste Missgeschick. Ein Ball fliegt von der Seite auf mich zu. „Pass auf!“, ruft jemand. Ich dreh mich um, will den Ball abwehren und verdrehe mir den linken Fuß. Der Knöchel wurde sofort mit Eis gekühlt. Auch auf der Fahrt nach Puebla, dem Spielort des Viertelfinales gegen Spanien, lag der Fuß die ganzen drei oder vier Stunden auf Eis.

Es war fraglich, ob ich würde spielen können. Ich bekam einen Tapeverband angelegt. Das war ein ganz ungewohntes Gefühl für mich. Als ich auf den Platz kam, wusste ich: Das geht so nicht. Der Rasen war sehr weich, man sackte gleich zwei Zentimeter ein. Ich hab den Verband wieder gelöst und mir selbst einen neuen angelegt – an beiden Knöcheln. Ich brauchte an beiden Füßen das gleiche Gefühl. Fredi Binder, unser Masseur bei den Bayern, hatte mir mal gezeigt, wie man den Verband am besten anlegt, und genauso habe ich es dann auch gemacht. Trotzdem gab das noch ein bisschen Theater. Aber ich konnte auflaufen, und ich habe gegen die Spanier ein Riesenspiel gemacht.

In der ersten Halbzeit gingen wir in Führung, doch kurz vor Schluss glich Spanien zum 1:1 aus. Es gab Verlängerung wie schon gegen die Russen und dann Elfmeterschießen. Ich habe in meiner Karriere einige Elfmeter gehalten, auch gegen sehr sichere Schützen: gegen Manfred Kaltz, Andreas Brehme, Marco van Basten und Wolfram Wuttke. Trotzdem habe ich mich nicht auf das Elfmeterschießen gefreut. Niemand freut sich auf ein Elfmeterschießen.

Bei Elfmetern hatte ich meinen ganz speziellen Trick. Ich habe meine linke Seite immer ein bisschen frei gemacht, damit die Schützen genau dorthin schießen. Das hat auch gegen die Spanier geklappt. Vier Mal war ich in der richtigen Ecke, aber die Bälle waren zu gut platziert, sie landeten genau unter die Latte. Nur Eloy, der zweite Schütze der Spanier, hat flach geschossen. Seinen Ball habe ich gehalten. Wir haben alle fünf Elfmeter verwandelt, die anderen nur vier. Wir waren weiter, und auf einmal bist du der King, alle stürmen zu dir, umarmen dich, erdrücken dich fast aus lauter Freude. Dazu der Jubel der Fans auf der Tribüne. Das ist unbeschreiblich.

Das kleine Belgien stand im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft. Unglaublich. Es ist bis heute unser größter Erfolg bei einer WM. Leider hatten wir dann das Pech, dass wir gegen Diego Maradona spielen mussten. Aber wir müssen uns nicht schämen, dass wir dieses Spiel 0:2 verloren haben. Ich habe mir immerhin noch das Trikot von Maradona gesichert. Das besitze ich heute noch. Ich habe Diego schon vor dem Spiel gefragt. Man muss eben immer ein bisschen cleverer sein als die anderen.

Aufgezeichnet von Stefan Hermanns. Nächste Folge: Berti Vogts über das Finale 1974.

* WM 1986, Jean-Marie Pfaff

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