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Sport: Berauscht im Schnee

Der FC St. Pauli feiert seine Pokalüberraschung gegen Werder Bremen und träumt vom Europapokal

Als Corny Littmann sich im „Clubheim“ des FC St. Pauli eine weitere Siegerzigarette ansteckte, erlaubte sich der Präsident des Fußball-Regionalligisten einen kurzen Gedanken an den Europapokal. Es war nach Mitternacht, und Littmanns Klub hatte gerade den Bundesligisten Werder Bremen in einer Schneeschlacht 3:1 im Viertelfinale des DFB-Pokals niedergekämpft. Mit einem weiteren Überraschungssieg im Halbfinale könnte St. Pauli unter Umständen vorzeitig in den Uefa-Cup einziehen. „Wir werden uns nach den Preisen für einen Charterflug nach Tirana erkundigen“, sagte Littmann und zog an seiner Zigarette.

Die Bremer hätten nach ihrem Ausscheiden aus dem DFB-Pokal wohl auch in Albanien gespielt, nur auf keinen Fall noch einmal auf dem vereisten Platz am Millerntor. „Wir haben einen Spieler in der Kabine sitzen, der vielleicht schwer verletzt ist“, sagte Werders Trainer Thomas Schaaf. „Das ist auf die Bedingungen zurückzuführen.“ Nationalstürmer Miroslav Klose war in der ersten Halbzeit in einem eher harmlosen Zweikampf auf dem schneebedeckten Boden ausgerutscht und hatte sich beim Sturz die Schulter ausgekugelt. Nach seinem überstandenen Jochbeinbruch fällt er mit einem Sehnenanriss erneut drei Wochen aus. Dieser Umstand erboste die Bremer ebenso sehr wie die Viertelfinal-Niederlage. Schon vor dem Spiel hatten sie darauf gedrängt, das Spiel wegen der Verletzungsgefahr abzusagen, und sogar ein Beschwerdefax an den Deutschen Fußball-Bund (DFB) geschickt. Doch nach dreimaliger Platzbegehung entschieden Schiedsrichter Felix Brych und seine Assistenten: Am Millerntor wird gespielt.

Was dort gespielt wurde, darüber gab es verschiedene Ansichten. Werders Sportdirektor Klaus Allofs schlug „Schlammcatchen oder Glatteissurfen“ vor – „jedenfalls nicht Fußball“. Stürmer Ivan Klasnic, der von 1994 bis 2001 bei St. Pauli spielte, stufte die Bodenverhältnisse als „grausam“ ein. „Egal, welchen Schuh du hier anziehst, es geht nicht“, sagte Klasnic. Dennoch war es ein Fußballspiel, wenngleich keines aus der Welt des von Rasenheizungen verwöhnten Champions-League-Teilnehmers. Die Bremer tapsten über das Feld wie Peter Jacksons King Kong über die Eisfläche im Central Park. Nahezu jeder Versuch ihres sonst eleganten Kombinationsspiels scheiterte schon an der Mittellinie.

Dass es anders ging, bewies der Drittligist: St. Pauli hatte am Morgen im Stadion trainiert und sich perfekt auf die Bedingungen eingestellt. Mit schnörkellosen Steilpässen und Flanken überwanden die Hamburger die Bremer Viererkette. So waren die Tore durch Michel Mazingu, Fabian Boll und Timo Schultz kein Zufall, sondern Lohn für großen Einsatz. „Die Bodenverhältnisse sind uns entgegengekommen“, gab Trainer Andreas Bergmann zu.

Der DFB verteidigte das Spiel im Schnee. „Platzkommission und Schiedsrichter haben nach bestem Wissen und Gewissen entschieden“, sagte DFB-Sprecher Harald Stenger. „Es gab keinen Druck des Fernsehens.“ In einer Presseerklärung sicherte der Verband den Bremern zu, „dass die Durchführung des Spiels und die Platzverhältnisse intensiv thematisiert werden“.

Den St.-Pauli-Anhängern waren die Umstände des Erfolges egal, sie feierten ausgelassen den Sieg. „Die Fans haben so viel leiden müssen“, sagte Jens Scharping, der in der Winterpause nach sieben Jahren ans Millerntor zurückgekehrt war, „sie haben es verdient.“ Stürmer Felix Luz staunte, wie schnell ein klammer Klub genesen kann, wenn das Fernsehen überträgt. „Vor sechs Monaten haben wir noch langfristige Sanierungspläne gemacht, und nun sind wir schuldenfrei.“

Die Euphorie könnte die Aufstiegspläne des Dritten der Regionalliga Nord beflügeln. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Pokalüberraschung den Aufschwung eines Klubs einleiten würde. Energie Cottbus stieg nach dem Erreichen des Finales 1997 in die Zweite, drei Jahre später in die Erste Liga auf. In Berlin erlebte der 1. FC Union 2001 mit dem Endspiel, der Teilnahme am Europacup und dem Aufstieg in Liga zwei Ähnliches. Aachen schließlich nutzte das Pokalfinale 2004 zum Schuldenabbau – und ist nun Tabellenführer der Zweiten Bundesliga.

Durch das „Clubheim“ des FC St. Pauli klang bis in die Nacht das Lied „Niemand siegt am Millerntor“. Burghausen, Bochum, Berlin und Bremen sind dort schon gescheitert. Nun wünschen sich die Spieler wieder einen Klub mit „B“ – erst Bielefeld, dann Bayern. Angst haben sie vor keinem Gegner. Weltpokalsiegerbesieger sind sie schließlich schon länger.

Steffen Hudemann[Hamburg]

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