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Rattern und Rackern: Beim "S-Bahn-Derby" zwischen Union und Hertha sind die Fangruppen nur bei der Anreise vereint.

© rtr

Berliner Derby: Waldklasse

Berlin fährt raus zum Fußball – und zeigt sich beim Derby von Union und Hertha in unsichtbarem Abstand vereint. Ein Besuch im Wald von Köpenick, beim Berliner Duell im Unterholz des deutschen Profifußballs.

Unter den rot-weiß benähten Jeanskutten und den blau-weiß beschalten Lederjacken rattert es, rattat- rattat, während die Bäume verwischt vorbeiziehen am offenen S-Bahnfenster. Heute fährt Berlin raus zum Fußball und überschreitet in Fahrtwindeseile eine unsichtbare Schwelle, die 20 Jahre zu fühlen war für gefühlige Leute wie Fußballfans es sind. Berlins großes Spiel findet diesmal im Süden vom Osten statt, nicht im Westen vom Westen. Dass der 1. FC Union am Wochenendanfang Hertha BSC bloß in der Zweiten Liga empfängt, kümmert hier keinen. Im Wald von Köpenick, der das schmucke Stadion An der Alten Försterei umschließt, stehen bemützte Männer am Trampelpfadesrand und fragen: „Noch jemand ’ne Karte über?“ Nee, keena.

Auch Frank stampft zum Forsthaus, ein bulliger Kerl mit Frau an der Hand. Der 47-Jährige hängt oft in einer Union-Fankneipe in Weißensee am Tresen, auf beiden Seiten. Viel bringt’s nicht ein; Frank kann sich in dieser Saison keine Dauerkarte leisten. Seit Anfang der Siebziger geht er zum Klub des kleinen Mannes – „das war hier eine Bruchbude, aber geil“. Sein Feind ist immer noch DDR-Dauermeister BFC Dynamo, der Verein seines SED-Vaters, gegen den er sich auflehnte, „die Untoten“, wie Frank den Fünftligisten heute nennt. Der BSC kommt gerade nur dazwischen, „Hertha ist nicht so mein Ding“ – mehr nicht, weniger auch nicht.

Wir halten zusammen, wie der Wind und das Meer, die blau-weiße Hertha und der FC Union. So klang das früher, und früher war sogar noch nach dem Fall der Mauer. Herthaner und Unioner hatten sich verbunden über die sichtbaren Barrieren der Stadt hinweg – und 1989 sind sie sich offen in die Arme gefallen wie die wildfremden Menschen an den Grenzübergangsstellen. Aber dann haben sie sich genau beguckt und beschnuppert und sind doch lieber auf Abstand gegangen; unsichtbar, aber fühlbar. Deutsche Einheit eben.

50.000 blau-weiß-rot-weiße Berliner säumten 1990 das Wiedersehen im Olympiastadion, diesmal hätten es doppelt so viele sein können. In die Försterei passen nur 18.430 Leute, aber raus aus dem Wald wollte keiner, ist doch ein Heimspiel. Also kommen die Hertha-Fans angerattert auf der Stadtbahn-Linie 3, die zwischen Köpenick und Charlottenburg verkehrt. Die Gäste zeigen sich stimm- und hüpfgewaltig, sie haben eine Fahne mitgebracht, auf der blockgroß die blau-weiße Vereinsfahne prangt. Dass die Herthaner immer wieder „Scheiß-Union“ rufen, könnte man als Zeichen einer Rivalität deuten, in der es seit sechs Jahrzehnten nicht mehr um Punkte ging. Vielleicht ist es aber nur Ausdruck der Ankunft in einer Spielklasse, die unter den Erwartungen liegt. Die Unioner, vor fünf Jahren noch gegen Motor Eberswalde und Anker Wismar auf Provinztour, hören darüber hinweg. Nur einmal antworten sie von der Gegengeraden, die wie die Fanseite nur Stehplätze hat: „Wir haben ein Stadion und ihr nicht.“

Herthas Spiel dauert 90 Sekunden, und nach der frühen Führung stolzieren die Favoriten ein wenig zu selbstgewiss übers Grün. Union kämpft und rackert sich zurück, rack-rack, die Kulisse wird lauter, lauter, lauter. Schüsse prallen gegen Herthas Latte, gegen einen Spieler auf Herthas Line, gegen das Gestänge, das Herthas Tor hält. In der Halbzeit klopfen sich die Leute zufrieden auf die Schulter an der Schlange vor dem Toilettencontainer, in dem alte Fliesen hängen und grau gewordene Raufasertapete. Diejenigen, die es eilig haben, stellen sich neben den Container an den Zaun und pissen Richtung Wald.

In der Natur der Sache, um die es hier geht, liegt der Ausgleich für die kämpfenden Unioner. Und als der eingewechselte Santi Kolk tatsächlich einnetzt, springt die ganze Arena bis fast unters Dach – und zum ersten Mal erfasst die Hertha-Hochburg eine kurze Stille. Als die Menschen gleich bis zum Abpfiff stehenbleiben und ihre Liebe besingen, ihren Stolz, ihren Verein, da wippt auf der Ehrentribüne sogar Klaus Wowereit in seinen Lederschuhen im Takt mit. Dabei ist er Hertha-Mitglied und nach Unions vor-derbylicher Stimmungsmache Vorsteher einer Stadtregierung, die sowieso den anderen Verein bevorzugt. Weil er größer ist. Weil er im Olympiastadion spielt. Weil er aus dem Westen kommt.

Hertha kommt eigentlich aus dem Norden. Würde das Team noch am Gesundbrunnen spielen, wäre es vielleicht ein Duell auf Augenhöhe geworden, dieses Berliner Derby im Wald. So aber ist der Unterschied gut zu sehen zwischen den Currywurst-Campingwagen hier und den Ausgabestellen am Olympiastadion, zwischen dem mehrstöckigen getäfelten Atrium für Presse und VIPs dort und einem im Schlamm steckenden Zelt- und Containerdorf hier, in dem die Spieler in einem engen, mit Kiezsponsoren vollgepflasterten Kabuff schwitzend stehen und Fragen beantworten. Und Sätze sagen wie: „Die Stimmung war weltklasse.“

Die S-Bahn hält auch für den Rückweg keine Zusatzzüge bereit. Also warten die Menschen auf dem durchgetretenen Bahnsteig Köpenick und blicken in die Nacht hinaus, durch die man in die Stadtmitte rattert, rattat-rattat, und vielleicht erst am nächsten Tag ankommt.

1:1. Berlins Fußball hat sein Glück geteilt und auch die Punkte in der Zweiten Liga. Herthas Mannschaftsbus rollt zurück. Bei Union wischt eine Frau noch die Container durch.

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