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Die Runde vor der La Ola. Show muss sein, sagt Franco Marvulli (links), „aber erst nachdem ich gewonnen habe“.

© Harald Ottke

Ein knallharter Zirkus: Wie viel sportlicher Wert steckt in den Sixdays?

Das Berliner Sechstagerennen ist eine große Spaßveranstaltung. Doch bei aller Show geht es auch um sportliche Meriten. Und da kann der Bahnradsport sogar ein bisschen von den Dopingenthüllungen der Straßenkollegen profitieren.

So mancher ehemals aktuelle Begriff hat den Sprung in die Neuzeit nicht geschafft, da macht das Berliner Sechstagerennen keine Ausnahme. In der Anfangszeit, als der Volksmund mit „Heuboden“ noch die billigen Stehplätze im Oberrang meinte, gab es dort hin und wieder Raufereien. Inzwischen sind Handgreiflichkeiten bei der 102. Auflage der Veranstaltung so selten geworden wie die Verwendung des Begriffs „Heuboden“. Ein ungeschriebenes Gesetz hat jedoch weiter Bestand: Die Stimmung bei den Sixdays kommt von den Rängen.

Dort nämlich steht für die Zuschauer der Sport im Vordergrund, dort springen sie für ihre Lieblinge noch auf und halten Banner in die Luft. Im Innenraum des Ovals gilt dagegen: sehen und gesehen werden. Wo sich die lokale Prominenz die Klinke in die Hand gibt, stehen die meisten Besucher nur dann auf, wenn ihre Gläser leer sind oder gerade Livemusik ertönt. Radrennen? Stimmt, da war ja was. Läuft halt irgendwie nebenher. Kann man ja mal mitklatschen.

Das Besucherverhalten im Velodrom steht stellvertretend für die Frage nach dem sportlichen Wert von Sechstagerennen: Wie viel Show darf oder muss sein? Wie ernst nehmen die Fahrer eine solche Veranstaltung? Ist sie nur Mittel zum Zweck? Oder fährt der innere Schweinehund tatsächlich auf jeder Runde mit?

„Man muss das Berliner Rennen gesondert betrachten“, sagt Franco Marvulli, „im Vergleich zu anderen Städten merkt man von der ersten Runde an: Hier sitzt überwiegend Fachpublikum, das ein feines Gespür für die jeweilige Situation hat, das gute Leistungen zu würdigen weiß.“ Für den 34-Jährigen, der am Sonntag vor 11 500 Zuschauern mit Lokalmatador Andreas Müller Platz zwei im Zweier-Mannschaftsfahren verteidigte, ist der Termin Ende Januar deshalb Pflicht. „Hier bin ich eines meiner ersten Rennen gefahren“, sagt er, „es war Liebe auf den ersten Blick.“

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Entsprechend ehrgeizig tritt der Schweizer Jahr für Jahr auf. 2008 konnte ihn nicht mal ein Kreuzbandriss aus der Bahn werfen, Marvulli radelte zu seinem bis heute einzigen Titel in Berlin. Weltweit hat der 34-Jährige schon mehr als 30 Sechstagerennen gewonnen. Marvulli kennt den Zirkus, und er gibt zu: „Das Format Sechstagerennen kämpft gerade ums Überleben, vor allem in Deutschland.“

Mit Berlin und Bremen gibt es nur noch zwei Standorte, traditionsreiche Rennen wie das in München oder Dortmund finden aus Gründen fehlender Wirtschaftlichkeit nicht mehr statt. Ob diese Entwicklung womöglich auch mit all den Negativschlagzeilen zusammenhängt, die der Radsport in den vergangenen Jahren gemacht hat? Blödsinn, sagt Marvulli. „All die Geschichten, von Jan Ullrich bis Lance Armstrong, waren sicher nicht hilfreich für unseren Sport. Aber man darf nicht vergessen: Wir fahren hier nicht die Tour de France.“

Es scheint beinahe, als profitiere der Bahnradsport von den Skandalen der Straßenrennfahrer. „Ich habe mich jedenfalls noch nie in eine Ecke gestellt gefühlt“, sagt Marvulli, „das ist ganz weit weg.“ Er selber ist ein Bahnspezialist, der lediglich im Sommer an Straßenrennen teilnimmt. Einerseits sei es „ein netter Nebenverdienst“, andererseits will Marvulli in den warmen Monaten nicht die Form verlieren, die er für sein Winterprogramm braucht. Mindestens acht Sechstagerennen bestreitet der Schweizer pro Saison, in früheren Jahren waren es auch schon mal 13. „Diese Zeiten sind aber vorbei“, sagt Marvulli, „ich verzichte lieber auf ein paar Rennen und erhöhe damit meine Siegchancen bei den anderen.“

Zumindest für die Fahrer geht es folglich vor allem um sportliche Ziele – und nicht um die Bespaßung des Volkes? Marvulli empfindet diese Frage als Majestätsbeleidigung. „Wir betreiben einen gnadenlos harten Sport“, sagt er. Selbstverständlich gehöre es dazu, mit den Massen zu spielen, Ehrenrunden zu drehen und radelnd La-Ola-Wellen anzustimmen. „Ich für meinen Teil befolge aber einen einfachen Grundsatz“, sagt er, „Show muss sein – aber erst, nachdem ich das Rennen gewonnen habe.“

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