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Gegen den Strich. Emily Sweetman zeichnet Alltagsszenen von den Fußballplätzen, ihr Mann schreibt die Texte dazu.

© Emily Sweetman

No Dice: Icke and Rush - Berliner Fußball auf Englisch

Zwei Briten und ein Ire geben ein Magazin heraus, das sich nur mit dem Berliner Fußball beschäftigt – auf Englisch. Ein ungewöhnlicher und liebevoller Blick auf die Geschichten, die das Spiel in dieser Stadt schreibt.

An einem sonnigen Nachmittag im Mai 2011 irrt Ian Stenhouse durch Schöneiche und sucht ein Fußballstadion. Der Schotte will sich ein Testspiel zwischen Germania Schöneiche und der Reservemannschaft des 1. FC Union anschauen und es fotografieren. Sechs Jahre zuvor ist der pensionierte Kunstlehrer aus Edinburgh mit seiner deutschen Frau nach Berlin gezogen, kurz darauf hat er eine ungewöhnliche Leidenschaft entwickelt: Der 51-Jährige zieht mit seiner Kamera über die Fußballplätze Berlins, quer durch alle Ligen und Bezirke, und macht hunderte von Bildern.

Sein Traum ist es, die Fotos in einem Fanzine über den Berliner Fußball zu veröffentlichen. Doch dazu bräuchte er jemanden, der auch schreiben kann. Als er gerade halb verlaufen den Fahrplan an einer Schöneichener Tramstation studiert, steht plötzlich ein Brite vor ihm, der genauso orientierungslos ist. Und ebenfalls auf der Suche nach dem Stadion.

Jacob Sweetman, ein Schlagzeuger aus Ipswich an der Ostküste Englands, kam 2006 durch einen Bekannten ans Kunsthaus Tacheles nach Berlin und jobbt als Redakteur beim englischsprachigen Berlin-Magazin „Exberliner“. Auch er entdeckte irgendwann seine Liebe für den Berliner Fußball. Und auch Sweetman hat Pläne für ein eigenes Magazin – wenn er doch nur einen Fotografen finden würde, der seine Leidenschaft teilt und den gleichen Blick für das authentische am Fußball besitzt. Als die beiden an diesem Tag aufeinandertreffen, ist die Sache schnell klar. Gemeinsam finden sie den Weg zum Stadion, noch am selben Tag ist die Entscheidung zum Start eines englischsprachigen Fußballmagazins aus der deutschen Hauptstadt gefallen.

Sweetman holt Stephen Glennon mit ins Team, einen dritten Seelenverwandten aus Irland, der durch die Fußball-Ekstase im WM-Sommer 2006 von Berlin gefesselt wurde und geblieben ist. Die drei legen los, im November 2011 erscheint die erste Ausgabe des „No Dice“- Magazins, das seitdem vierteljährlich einen tiefen Einblick in die Berliner Fußballkultur bietet. Sei es ein Essay über Union-Trainer Uwe Neuhaus, ein Hausbesuch im Wedding bei dem Mann, der einst Thomas „Icke“ Hässler entdeckte, eine Fotoreportage über die Schiedsrichter der Kreisligen oder ein Spielbericht aus der Verbandsliga. Verfasst auf Englisch und aus der Perspektive dreier zugezogener Fußballenthusiasten, für die diese Sportart der beste Weg ist, eine Stadt und ihre Menschen verstehen zu lernen.

Und kaum eine Stadt gibt durch seine Vielfalt an Fußballklubs so viel her wie Berlin, meint Jacob Sweetman. „Diese Stadt hat eine einzigartige Geschichte, das spiegelt sich auch in ihren Fußballklubs wider. Nirgendwo sonst gibt es eine solche Dichte an ganz speziellen Vereinen, die in mehr als hundert Jahren Bestehen alles durchgemacht haben und über die man so viel erzählen kann“, sagt der 34-jährige Brite. Außerdem fasziniert ihn, dass hier die Vereine oft ein genaues Abbild ihrer Bezirke und des sozialen Umfelds sind. „Egal ob man nach Kreuzberg zu Türkiyemspor geht oder zum BFC Dynamo ins Sportforum Hohenschönhausen: Man taucht ein in die vielen verschiedenen Lebenswelten die in Berlin existieren.“

Der Name „No Dice“ ist eine Anlehnung an eine fiktive Fußballweisheit, die lange Lukas Podolski zugeschrieben wurde: „Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel.“ Als die drei herausfanden, dass der deutsche Nationalspieler diesen Satz nie wirklich gesagt hat, war die Entscheidung schon gefallen. Der Name passte einfach zu gut, weil das Zitat all das verkörpert, wofür der Fußball aus Sicht der „No Dice“-Gründer steht: Genialität wie Dummheit, Eleganz wie Hässlichkeit.

Viele Freizeitkicker finden es aufregend, englische Texte über ihren Klub zu lesen

Die Titelseite der aktuellen Ausgabe von "No Dice".
Die Titelseite der aktuellen Ausgabe von "No Dice".

© Promo

Als die drei mit der Arbeit am Magazin loslegen, geschieht das aus reiner Leidenschaft und ohne große Illusionen auf Erfolg, auch heute lässt sich mit der Zeitschrift kein Geld verdienen. „Berliner Fußball, noch dazu auf Englisch – das ist eine so winzig kleine Nische, das kann eigentlich gar nicht funktionieren“, sagt Ian Stenhouse.

Dass „No Dice“ dennoch viel Zuspruch bekommt und trotz komplettem Verzicht auf Werbung und Anzeigen immerhin die Unkosten wieder einbringt, liegt auch an einer Leserschaft, mit der die drei am Anfang gar nicht rechnen: Berliner, Hobbyfußballer, Fans – die Protagonisten des Sports selbst. „Wir hatten eher an internationale Fußballfans gedacht, die sich ein wenig über den Berliner Fußball informieren wollen. Aber viele unserer Leser sind Deutsche aus Berlin. Die wissen den etwas anderen Blickwinkel zu schätzen“, erzählt Stephen Glennon. „Viele finden es aufregend, mal auf Englisch über ihren Verein oder ihre Liga zu lesen.“

In der Tat besetzt „No Dice“ eine völlig eigene Nische. Streng genommen gibt es nicht einmal auf Deutsch ein Magazin, das das Augenmerk auf den Charme des ungeschminkten Fußballs jenseits der bloßen Ergebnis-Berichterstattung sowie auf die Geschichte der vielen Berliner Klubs legt. Und dabei keine Hierarchien zwischen den großen Profivereinen und den kleinen Kreis- und Freizeitligateams kennt.

Auf seinen Fotos konzentriert sich Stenhouse oft weniger auf die Spieler als auf das architektonische Umfeld der Berliner Sportanlagen, irgendwo zwischen Plattenbauten, Schulhöfen und Gitterzäunen. Sweetman und Glennon sind ebenfalls Woche für Woche unterwegs, ob beim 1. FC Union, bei Tennis Borussia, beim Wartenberger SV II oder bei der Seniorentruppe des NSC Marathon. Die vielen Bilder, Spielberichte und Reportagen veröffentlichen sie auf ihrer Internetseite als Ergänzung zum Magazin.

Dass sie dabei nicht von kommerziellen Absichten sondern vor allem von Herzblut und Spaß an der Sache angetrieben werden, merkt man den Fotos und Geschichten deutlich an. Die Artikel handeln vom Kribbeln bei Türkiyemspors Heimkehr-Spiel an die alte Kreuzberger Wirkungsstätte oder vom kalten Schweiß, der Sweetman vor lauter Nervosität und Ehrfurcht den Rücken hinunterlief, als er Unions Trainer Uwe Neuhaus gegenüber saß und sich mit seinem holprigen Deutsch durchs Gespräch kämpfte. „No Dice“ ist nicht nur ein sehr persönliches Projekt, sondern auch eine Art Familienbetrieb. Sweetmans Frau Emily steuert die Zeichnungen bei, die in sanften Wasserfarben und schlichten Motiven den Heften einen speziellen Anstrich geben. Ians elfjähriger Sohn Vincent malt für die Rückseite jeder Ausgabe Porträts von Berliner Fußballern.

Das Cover der mittlerweile restlos vergriffenen ersten Ausgabe.
Das Cover der mittlerweile restlos vergriffenen ersten Ausgabe.

© Ian Stenhouse

Dass „No Dice“ in einer beliebigen anderen Stadt funktionieren könnte, glaubt Jacob Sweetman nicht: „Es hätte einfach nicht diese Tiefe. So viele Traditionsvereine findet man nirgendwo sonst“, meint der einstige Musiker, der bevor er nach Berlin kam, nie nennenswert als Autor aktiv war. Erst Berlin mit seinem riesigen Fußballuniversum habe in ihm den Drang geweckt zu schreiben. Ähnlich erging es Ian Stenhouse, der ebenfalls schon immer Fußballfan und auch schon immer Hobbyfotograf war, aber erst in Berlin anfing, seine Kamera mit zu den Spielen zu nehmen.

„No Dice“ erscheint vierteljährlich. Die gedruckten Ausgaben sowie eine pdf-Version sind gegen eine Spende auf www.nodicemagazine.com erhältlich. Fotos von Ian Stenhouse sind derzeit in der Fußballkneipe „Schwalbe“, Stargarder Straße 10 in Berlin-Prenzlauer Berg ausgestellt.

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