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Abgebrüht. Bei der Boston Tea Party kippten 1773 als Indianer verkleidete Bürger die Teelieferung der britischen Kolonialherren ins Meer. Kippen die Bostoner nun auch die Olympiabewerbung?

© Mauritius Images

Boston will Olympische Spiele 2024 nicht: Ein großer Topf voller Anti-Olympia-Argumente

Boston galt als Favorit für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2024. Doch unter den Bürgern regte sich früh Widerstand. Sie haben gute Argumente.

Auf dem Campus der Harvard University baut sich allmählich die Tagesspannung ab. Es ist ein Dienstag im April, kurz nach 18 Uhr, Studenten machen sich auf den Heimweg. Hello, goodbye, letzter müder Smalltalk. Nur vor der Burden Hall, einem flachen Klinkerbau, herrscht Hektik. Vor der Tür wachen mehrere Polizisten, im Eingangsbereich hibbeln Kamerateams herum. Und im Hörsaal hat sich George Lee Humphrey seinen Platz in einer der ersten Reihen gesucht. „Ich habe etwas vorbereitet. Ich werde sprechen“, sagt der 83 Jahre alte Rentner und zeigt auf den Mikrofonständer. Doch es sind noch ein paar Minuten. Humphrey will sie zum Lesen nutzen. Sein Buch heißt „The Anatomy of Revolution“.

Als der 700-Plätze-Saal wenig später zur Hälfte gefüllt ist, läuft ein Mann in Anzug und mit streng gegelten schwarzen Haaren zum Podest. „Mein Name ist John Fitzgerald. Ich arbeite für die Planungsbehörde von Boston.“ Die Stadt habe zu der heutigen Veranstaltung geladen, um über die Bewerbung für die Olympischen Spiele 2024 zu informieren. „Und vor allem wollen wir eure Fragen und Sorgen hören“, sagt Fitzgerald und lächelt milde. Als er fertig ist, klatschen die Zuschauer. Applaus? Der junge Mann schaut irritiert. Dann reißt er ironisch die Fäuste in die Luft, wohl ahnend, dass es heute nicht mehr Beifall geben wird. Nicht für ihn.

Als sich der Deutsche Olympische Sportbund gegen Berlin und für Hamburg als Bewerber für die Sommerspiele 2024 entschied, kam kaum eine Analyse ohne dieses eine Wort aus: Leidenschaft. Was die Hanseaten hätten, würde der deutschen Hauptstadt in Bezug auf Olympia fehlen. Und mürrische Gastgeber wolle ja niemand sehen. Einig war sich der Expertenchor auch darin, wer für Hamburg nun größter Konkurrent sei. „Topfavorit Boston“, hieß es meist ein paar Sätze weiter.

Nur 36 Prozent der Bürger wollen die Spiele

Wer sich in Boston und der Uni-Nachbarstadt Cambridge umhört, spürt Leidenschaft, kein Zweifel. Nur die Richtung ist – zumindest aus olympischer Sicht – die falsche. In der letzten Umfrage sprachen sich 52 Prozent der Bevölkerung gegen Olympia aus. Bescheidene 36 Prozent unterstützen die Spiele. Im Basketball wäre das eine deutliche Halbzeitniederlage. In der Hauptstadt des US-Bundesstaates Massachusetts hat sich eine Protestbewegung formiert, die nicht auf aggressive Stammtischparolen setzt, sondern auf Kompetenz, Akribie und Höflichkeit.

Die Anatomie der Revolution? In Boston ist sie kultiviert, sie ist sozusagen in die DNA der Stadt eingegangen. Boston wird gemeinhin als Wiege der Freiheit bezeichnet, in dieser Stadt entzündete sich im 18. Jahrhundert der Revolutionskrieg. Die Boston Tea Party war ein Akt des Widerstandes gegen die britische Kolonialpolitik, und Widerstand regt sich nun auch gegen das Vorhaben, die Olympischen Spiele dort auszurichten.

Der 83-jährige Humphrey hat das Buch beiseitegelegt. Sein Auftritt. Der ehemalige Finanzmanager läuft zum Mikrofon. Er trägt ein Cordsakko mit Einstecktuch, in der linken Hand hält er einen Zettel, von dem er abliest. „Für die Veranstaltung sind 4,7 Milliarden Dollar angesetzt. Und diese Kosten sollen genau durch den Umsatz gedeckt werden? Wer sich mit Geld auskennt, weiß: das funktioniert nie“, sagt Humphrey. Er vertraue den Zahlen des Bewerbungskomitees nicht. „Ich fordere, dass Unabhängige das prüfen“, sagt der Harvard-Absolvent von 1959. Die Aktivisten im Publikum halten ihre Plakate noch ein wenig höher.

„Safer Streets. No Olympic Games.“

„Better Transit. No Olympic Games.“

„Better Housing. No Olympic Games.“

„Better Schools. No Olympic Games.“

So steht es dort, schwarz auf weiß.

„Vielen Dank“, sagt Veranstalter Fitzgerald. Der nächste Redner bitte. Es ist Humphreys Frau Diana. „Boston hat so viel Sport, wir brauchen Olympia nicht“, sagt die 77-Jährige und listet in aller Ruhe die Veranstaltungen und Vereine auf. „Boston Celtics, Boston Red Sox, Boston Bruins, Boston Marathon.“ Auch Diana Humphrey bekommt Applaus.

Der Topf der Anti-Olympia-Argumente ist tief

Je länger der Abend, desto klarer die Erkenntnis, dass die Bürger Bostons aus einem großen, bunten Topf voller Anti-Olympia-Argumente fischen. Da wären die schweren Schneestürme im Winter, die das Transportsystem zum Kollabieren brachten und den 600 000 Einwohnern noch in den Knochen stecken. Manche Redner monieren das temporäre Olympia-Stadion, das 300 Millionen US-Dollar kosten und nach drei Wochen Nutzung wieder abgebaut werden soll. Andere beklagen die 7500 US-Dollar, die der ehemalige Gouverneur Deval Patrick für seine Einsätze als Olympia-Botschafter bekam – pro Tag. Mangelnde Transparenz wird den Veranstaltern von „Boston2024“ vorgeworfen, hässliche Baustellen werden befürchtet. Fast alle haben das katastrophal gemanagte Großbauprojekt „Big Dig“ im Kopf. Die Kosten für den Autobahntunnel waren von geplanten 2,6 Milliarden auf knapp 15 Milliarden US-Dollar explodiert. „Eurem Versprechen, dass die Spiele ohne Steuergelder auskommen, glaubt niemand“, sagt eine junge Frau. Profitieren würden nur große Baufirmen und Sponsoren, so der Vorwurf Richtung Podium.

Dort sitzt neben John Fitzgerald auch der verantwortliche Olympia-Architekt David Manfredi. „Es werden die kompaktesten und fußläufigsten Spiele aller Zeiten“, verspricht Manfredi, „die gesamte Stadt wird davon profitieren“. 5,2 Milliarden US-Dollar sollen demnach in die Infrastruktur investiert werden. Jobs würden entstehen, der Tourismus angekurbelt. Als positives Beispiel nennt Manfredi die Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles. Dort seien 233 Millionen US-Dollar Überschuss erwirtschaftet worden.

Während die Redner, insgesamt sind es rund 50, nach und nach ihre Sorgen äußern, wird Veranstalter John Fitzgerald immer ungeduldiger. Er wippt mit dem Bein, presst die Lippen zusammen. „Drei Fragen noch, ja? Ist das fair?“, fragt er. Sein liebevolles „Thank you“ nach jedem Publikumsbeitrag ist einem hastigen „Thanks“ gewichen. Kurz nach 22 Uhr ist Feierabend. Ob er genervt sei? „Ach, nein. Aber ich bin auch nur ein Mensch“, sagt Fitzgerald und schüttelt ein paar Hände. Weiter hinten im Auditorium steht Chris Dempsey. Auch er schüttelt Hände. Der 32-Jährige ist einer von drei Gründern der Initiative „No Boston Olympics“. Er hat den ganzen Abend lang beobachtet und getwittert. Jetzt lächelt er.

Am nächsten Morgen sitzt Dempsey in einem Café – er wirkt ausgeschlafen – und erklärt den Ursprung dieser Bewegung. „In Boston leben viele Akademiker. Und die Leute sind sich dessen bewusst, was nachhaltigen Erfolg ausmacht. Ein gutes Bildungssystem zum Beispiel. Und ein gutes Gesundheitssystem.“ Olympia bedeute die Abkehr vom Bostoner Weg. Dempsey studierte an der Business School in Harvard, arbeitete jahrelang für die Regierung von Massachusetts. Dann wechselte er die Seiten. „Ich kenn die Abläufe in der Politik. Ich weiß, wer am Ende auf den Kosten sitzen bleibt“, sagt er.

Die Opposition kommt eher aus dem politisch linken Lager

Für ihn sei es keine Überraschung gewesen, dass sich das „United States Olympic Committee“ für Boston – und gegen San Francisco, Los Angeles und Washington D. C. entschied. „Zunächst einmal bietet Boston als Wissenschaftsstandort viele interessante Kooperationen“, sagt er und ergänzt: „Außerdem ist die Ostküste in Bezug auf TV-Zeiten viel besser für Europa als die Westküste.“ Der hochaufgeschossene, athletische Mann hat auf jede Frage eine Antwort mit Substanz. Er ist höflich und witzig. Sowohl Journalisten als auch Olympia-Funktionäre und Regierung haben großen Respekt vor ihm. „Um eins klar zu machen: Olympia in Boston wäre ein dreiwöchiger Spaß. Nur: Die neun Jahre davor und die Jahrzehnte danach wären kein Spaß“, so Dempsey.

Die Opposition sei hauptsächlich linker Natur. Dieser Meinung ist Mark Arsenault, der für den „Boston Globe“ das Thema Olympia bearbeitet. „Und man muss wissen: Die Leute hier waren schon immer meinungsstark“, sagt der 48 Jahre alte Journalist. Arsenault ist einer der wenigen, die sich noch einen Stimmungswechsel vorstellen können. „Es ist ja noch ein wenig Zeit“, sagte er. Bis November 2016 haben die Stadt Boston und das Olympia-Bewerbungskomitee Zeit, das Vertrauen der Bevölkerung zu erobern. Dann soll ein Referendum stattfinden. „Boston 2024“ will es davon abhängig machen, ob man sich offiziell beim IOC bewirbt.

Dass der Zuschlag eine „Katastrophe“ wäre, da ist sich der US-Ökonom Andrew Zimbalist sicher. „Ich rechne damit, dass die tatsächlichen Kosten das derzeit geplante Budget um mehrere Milliarden übertreffen würden“, sagt Zimbalist, der sich in seinem neuen Buch „Circus Maximus“ mit dem Erbe beschäftigt, das Sportgroßveranstaltungen ihren Austragungsorten hinterlassen. Sein Fazit in Bezug auf die Spiele 2024: „Boston sollte Hamburg gewinnen lassen.“

Dieser Text ist am 13. April 2015 auf tagesspiegel.de erschienen.

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