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Am Boden, keineswegs. Die Britin Samantha Bowen ist mit 1,41 Metern beim Sitzvolleyball ein schwer zu überwindendes Hindernis.

© Thilo Rückeis

Britische Soldatin bei den Paralympics: Der Kampf der Samantha Bowen

Sie ist 21 Jahre alt, als ein Schrapnell ihren rechten Fuß zerschmettert, sie beinahe tötet, damals im Irak. Nun startet sie bei den Paralympics, im Sitzvolleyball. Wie die Soldatin Samantha Bowen nicht aufhören will zu kämpfen.

Samantha Bowen setzt sich auf den Hallenboden, sie schlägt ihre beiden Beine seitlich nach links. Bequem sieht das nicht aus, aber es ist genau die richtige Position. Bowen spielt Sitzvolleyball, auf ihrem Trikot prangt die Rückennummer 4. Bei den Paralympics in London kämpft sie für Großbritannien – und gerade gegen die Niederlande. Der Gegner schmettert, Samantha rutscht vorn ans Netz, sie reckt ihren Oberkörper in die Höhe und reißt die Arme hoch. Mit 1,41 Meter Greifhöhe im Sitzen überragt sie einige. Der Ball prallt gegen ihre Hände: Angriff abgewehrt.

Am 15. Mai 2006 war das anders, da hat sie verloren, weil so ein Krieg einfach stärker ist als eine noch so ehrgeizige Soldatin aus South Wales. Im Mai vor sechs Jahren war Samantha Bowen im Irak.

Sie diente als Kanonier bei der Königlich Britischen Artillerie. Zur Armee zu gehen war immer ihr Traum gewesen, mit 16 Jahren trat sie bei. Sie ist 21 Jahre alt, als ein messerscharfes Schrapnell ihr rechtes Bein zerschneidet, ihr Fußgelenk zerschmettert. Mehr als 30 Mörsergranaten feuern die irakischen Truppen nahe der Basis von Bowens Regiment in Al Amara ab. Die Soldatin verblutet fast.

„Ich leide unter ziemlich lebendigen Albträumen”, sagt Bowen, „ich durchlebe das dann manchmal noch mal, so als ob alles Wirklichkeit wäre. Ich habe sogar noch den Geruch in der Nase.“ Es ist der Geruch von verbranntem Fleisch, Metall und Staub. Er lässt sie nicht los.

In der Halle riecht es nach Popcorn und nach Schweiß, es zieht kühl aus der Klimaanlage. Wenn Bowens Nation am Sonntag das Finale der bisher größten und erfolgreichsten Paralympischen Spiele mit der Abschlussfeier zelebriert hat, steht für die Kriegsveteranin die nächste Herausforderung an. Wieder eine Operation – und eine Schicksalsfrage. „Nach den Spielen muss ich entscheiden, ob ich mein rechtes Bein amputieren lasse oder nicht. Die Schmerzen sind einfach zu groß.“

In der Londoner Excel-Arena spürt Samantha Bowen jetzt keinen Schmerz, sie strahlt, ihre Mannschaft hat eine gute Phase gegen die starken Niederländerinnen. Sie gewinnen den Satz. Die Spielerinnen klatschen sich ab. Die meisten von ihnen robben jetzt für die kurze Pause auf dem Po vom Spielfeld, sie haben ihre Rollstühle, Krücken, Prothesen und Orthesen am Rand deponiert. Wenn sie sich die dort wieder anlegen, dann scheinen Mensch und Technik zu verschmelzen. Die Paralympioniken sehen dann tatsächlich ein bisschen aus wie Menschmaschinen, wie die „Superhumans“, zu denen der britische Fernsehsender Channel 4 die Protagonisten der Paralympischen Spiele in seiner Werbung stilisiert.

Der Sender hat sein gesamtes Programm umgestellt, die Sportler sollen im Mittelpunkt stehen. Die Briten wollen das sehen, Millionen bejubeln die Athleten, die das Klischee vom hilflosen Behinderten widerlegen. Die Zuschauer reißt der Sport mit, sie bekommen Gänsehaut und haben Tränen in den Augen. Wenn die Menschen hier alle nicht kleinzukriegen sind, denken sie auf den Rängen und vor den Fernsehern, dann muss ich in meinem Leben kein Problem größer machen, als es ist.

Die Sportler hatten Auto- oder Arbeitsunfälle, sie sind mit dem Motorrad verunglückt, sie kamen behindert zur Welt – oder sie verunglückten im Krieg. Samantha Bowen sehen die Zuschauer im ausverkauften Sitzvolleyballstadion in der Excel-Arena ihre Behinderung nicht an, weil diese junge Frau mit dem zurückgebundenen Haar lässig zu ihrem Trainer Stephen Jones schlendert. Dabei ist ihr Unterschenkel gelähmt. Nur dank einer Stütze kann sie den Fuß belasten. „Ich habe heftige Schmerzen und meine Muskeln verkrampfen sich, aber ich darf Schmerzmittel nehmen, die nicht gegen die Anti-Doping-Regeln verstoßen“, sagt Bowen. Immer wieder renkt sie sich ihr Fußgelenk aus und jedes Mal aufs Neue muss sie deswegen ins Krankenhaus.

Jede ihrer Bewegungen auf dem Spielfeld verfolgt Bridgette Swales genau. Die 40-jährige Frau mit den dunklen Locken sitzt im Publikum, mitten unter Kindern, die britische Flaggen auf ihre Wangen gemalt haben, Männern und Frauen mit Union-Jack-Fahnen. Swales ist „Sportsperformance Manager“ an der Roehampton Universität. Vor allem aber ist sie Samantha Bowens Kraft- und Ausdauercoach. „Es ist großartig, Sam zu trainieren“, sagt sie. „Sam ist absolut enthusiastisch und willensstark. Man merkt ihr an, dass sie vom Militär kommt. Sie ist robust, und sie will immerfort arbeiten und trainieren.“

Samantha Bowen tat das schon, um 2003 in der Britischen Armee aufgenommen zu werden. Bevor sie zum Einsatz in den Irak flog, vertrat Bowen ihre Heimat Wales bei Boxwettkämpfen. Aus der Zeit stammt auch ihr Spitzname: Rocky. Tänzeln, anpeilen, angreifen. Im Krieg hat Bowen Drohnen bedient.

„Ich!“, ruft Bowen nun auf dem Spielfeld in der Halle, sie bietet sich der Mannschaft an, sie schmettert den Ball, sie macht den Punkt. Anpeilen. Angreifen.

Elf lange Monate verbrachte sie nach ihrer Verwundung im Selly Oak Hospital, zur Passivität verdammt. Dutzende Male wurde sie operiert. „Ich war aber schon immer sehr aktiv“, sagt sie. „Ich bin bereits kurz nach meiner Verletzung zu einem Behindertensporttag in Wales gegangen. Nach all der Reha und Physio wollte ich endlich wieder Sport treiben.“ Sie hat da verschiedene Sportarten ausprobiert, auch jene, bei denen sie im Rollstuhl hätte sitzen müssen. „Aber in dem Moment, in dem ich Sitzvolleyball gesehen habe, wollte ich das machen“, sagt sie. „Ich hab dann sofort dieses Sirren, diese Begeisterung gespürt und konnte das nächste Training kaum erwarten.“ Sitzvolleyball ist dynamisch, schnell, anspruchsvoll, ganz so, wie sie das braucht.

Kraftcoach Bridgette Swales lobt Bowens guten Gleichgewichtssinn. Der erlaubt es ihr, auf dem Feld in mehrere Richtungen zu agieren. Beim Sitzvolleyball ist die Kraft aus dem Oberkörper entscheidend. Sam, das sagt ihre Trainerin Swales, hat viel Kraft. Dafür braucht man keine Beine. So denken sie hier im Team. Manchmal stört so ein Bein sogar. Würde Bowen ihr rechtes Bein verlieren, dann wäre sie anfangs auf dem Spielfeld vielleicht ein wenig instabil. Gewöhnen würde sie sich daran aber schnell, glaubt sie. Zwei Beine sind jetzt sogar manchmal zu viel. Die können ein Nachteil sein, sagt sie, „besonders weil ich so groß bin“. Sie hat lange Beine.

2008 wird Samantha Bowen vom Militär ausgeschlossen

In ihrer Mannschaft spielt eine, der vor anderthalb Jahren ein Bein amputiert wurde, erzählt Bowen. Die sei jetzt viel mobiler als sie. Es gibt Paralympioniken, die haben drei Kreuze gemacht, als ihr Problem-Bein endlich ab war, endlich keine Schmerzen mehr, endlich weg mit dem Ding, das einen nur quält. Wenn solche Extreme Alltag sind, redet man nicht lange um eine Sache herum. „Ich bin im Krieg verletzt worden, ich bin Veteranin“, sagt Bowen gleich am Anfang, wenn Reporter sie interviewen. Vielleicht denkt sie dann auch: Das waren andere, ich bin nicht schuld. Angriff als beste Verteidigung. So eine wie Samantha Bowen gibt nicht auf, die macht weiter.

Sie ist damit nicht allein. Bowen hat sich in der Vorbereitung für die Paralympischen Spiele 2012 in London der Organisation „Help for Heroes“ angeschlossen, die mit ihrer Initiative „Battle Back“ das Sitzvolleyballteam unterstützt. Deren Angehörige tragen Jacken und T-Shirts mit einem Logo, auf dem Kameraden Verletzte auf einer Trage retten. Die strecken dann trotzig ihre Krücken in die Höhe – wie Samantha Bowen ihre Arme in der Verteidigungsposition auf dem Sitzvolleyballfeld. „Battle back“ heißt „schlag zurück“! Dank der Initiative, die mit dem Verteidigungsministerium kooperiert, bekommen die Spielerinnen Stipendien, viele Briten spenden privat dafür. So ein Stipendium ist nicht viel, aber es hilft zum Beispiel beim Trainingsprogramm für die Paralympics.

„Es ist mir eine Ehre, mein Land hier zu repräsentieren“, sagt Bowen. „Aber ich bin vor allem hier für mich selbst und für mein Team, nach all der harten Arbeit, die wir reingesteckt haben. Ich fühle, dass ich es verdient habe, hier zu sein.“ Sie sagt, sie genieße „jede einzelne Minute, die wir auf dem Platz sind. Sitzvolleyball hat mein Leben verändert.“ Man könnte auch sagen: Der Sport und die ungeheure Konzentration auf das Training haben ihr das Leben gerettet. Und nicht nur ihr.

John Allan Butterworth, Ein-Kilometer-Zeitfahrer im Rennradstadion, verlor seinen linken Arm bei einem Raketenangriff im Irak. Derek Derenalagi, Diskuswerfer, geriet mit seinem Jeep in Afghanistan in eine Sprengfalle und verlor beide Beine. Ähnlich erging es Samantha Bowens Sitzvolleyballkollegen Netra Rana aus dem Männerteam. Auch er verlor ein Bein. Nick Beighton, Ruderer, trat in Afghanistan auf eine Mine. Sie riss ihm beide Beine ab. Den früheren Soldaten Charlie Winkler machte eine Hirnhautentzündung zum Invaliden. Sie alle gehören zur Gruppe der britischen Kriegsversehrten. Sie alle trainieren hart. Samantha Bowen war kaum aus der Reha-Klinik entlassen, da machte sie bei einem internationalen Wettbewerb Kriegsversehrter, den „Warrior Games“, den britischen Nationaltrainer auf sich aufmerksam.

Und doch hilft ihr all ihr Ehrgeiz gerade in London nicht, es sieht nicht gut aus gegen die Niederlande, schon wieder hämmern die Gegnerinnen in Weiß den Volleyball ins Feld der Britinnen. Immer wenn das Team GB einen Punkteverlust kassiert, bilden die Spielerinnen einen Kreis und klatschen gemeinsam auf die Erde. Es wird viel getröstet, umarmt, Mut gemacht. Während der Spiele sind die Zeitungen und Sender voll mit Geschichten über Bowens Mannschaftskollegin Martine Wright. Die trägt die Trikotnummer 7, es ist eine Überlebende der Terroranschläge in der Londoner U-Bahn vom 7. Juli 2005. Die Spielerin ist sehr schnell und wendig, sie sitzt sehr stabil, da sind keine Beine im Weg. Wenn Nummer 7 vom Feld läuft, dann tut sie das elegant und wendig auf ihren Oberschenkelstümpfen. Ihre Familie jubelt ihr zu, ihr Mann, ihre Kinder.

Aber das Spiel gegen die Niederlande geht verloren, aus und vorbei. Samantha Bowen wischt sich den Schweiß ab und sagt: Das macht nichts. Sie haben sich gut behauptet, es geht schließlich um mehr als nur Punkte auf der Anzeigetafel. „Sitzvolleyball ist jetzt meine Karriere“, sagt sie, „es macht mir Spaß und ich bin gut darin.“ Sie will einen Sponsor finden, aber auch ihren Beruf als Pflegeassistentin für Erwachsene mit Lernschwierigkeiten wieder aufnehmen, der bereitet ihr Freude. „Es ist auch gut, ein Leben außerhalb des Volleyballs zu haben.“ Neben all dem engagiert sich für Charity-Projekte. Anderen zu helfen, das macht selber stark.

Stark muss Samantha Bowen immer wieder sein. 2008 zuletzt. Da wird sie vom Militär ausgeschlossen. Die Soldatin trifft das hart. „Um in den Krieg zu ziehen, war ich gut genug“, sagt sie. Ein paar hundert Pfund gibt es da noch im Monat für eine Heldin des Krieges. Also zieht Samantha Bowen in den Kampf gegen die eigene Armee. Als die Soldatin vom Verteidigungsministerium nicht die Kompensation bekommt, auf die sie hofft, sammelt die Wohlfahrtsorganisation „Königlich Britische Legion“ für den Berufungsprozess. Zum Schluss erhält sie statt 90 000 mehr als 180 000 Pfund. Die braucht sie für den nächsten Kampf – den gegen die Vergangenheit. Denn auch wenn ihr Äußeres behandelt sein mag, ihr Inneres ist es nicht.

Nach ihrer Rückkehr aus dem Irak hatte ein Militär-Rehabilitationszentrum in Surrey Bowen sie aufgenommen. „Das ist jetzt für absolut alles ausgestattet, aber vor sechs Jahren haben die sich auf körperliche Verletzungen und nicht auf mentale Traumata fokussiert“, erklärt sie. Was bedeutet: Die Ärzte haben gewusst, dass die Soldatin Samatha Bowen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden könnte. Nur das Ausmaß „haben sie nie erkannt“.

Als Bowen entlassen wird, muss sie ihre Kompensationszahlung dafür ausgeben, Psychologen zu bezahlen, das Erlebte zu verarbeiten. „Weil ich wieder der Mensch sein wollte, der ich vor Irak war.“ Die Gespräche halfen. Vor allem aber hilft der Sitzvolleyball.

Bei diesem Turnier läuft es allerdings nicht gut für das Team GB. Sogar das Spiel um den achten Platz geht verloren. Trotzdem will Samantha Bowen in vier Jahren wieder mit dabei sein. Ob mit zwei Beinen oder mit einem. Die alte und die neue Sam, sie nehmen jeden Kampf auf.

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